Sophie Scholl. Von der Freiheit zu lachen

von Sabrina Laue und Johanna Böttiger

Donnerstag Vormittag, 18. Februar 1943. Die beiden Gestalten hechten durch das Hauptgebäude der LMU, bepackt mit Koffer und Aktentasche, in denen sie über 1000 Flugblätter durch die leeren Gänge transportieren. Noch laufen die Vorlesungen, aber es sind noch weniger als zehn Minuten bis zur Pause. Selbst haben die beiden ihre Veranstaltung etwas früher verlassen, Wegstrecke, so die Begründung. Sie platzieren die Flugblätter hastig in Stapeln überall hin: auf Fensterbänke, Treppen, vor Hörsäle – überall, wo sie in ihrer Eile hinkommen können. So viele Studierende wie möglich sollen die Blätter in die Finger kriegen, so viele, dass die Übersicht über lesende Student:innen verloren geht.

“Wozu heben Sie die Blätter auf? Lassen Sie die ruhig liegen, die sollen doch Studenten lesen.”, sagt die eine Gestalt auf dem Weg zum Ausgang zu einer Putzfrau, die pflichtbewusst die herumliegenden Blätter wieder einsammeln will. Es ist eine junge Frau, die das sagt, Anfang zwanzig vielleicht.

Ihre Aktion für geglückt haltend fliehen die beiden Gestalten durch den Hinterausgang aus dem Universitätsgebäude, stolz und erleichtert – bis sie entsetzt feststellen, dass sich etliche Blätter immer noch in der Aktentasche befinden und sie den Rückweg antreten müssen. Die Uhr tickt unerbittlich. Sie rennen die Treppen des Lichthofs hoch in den zweiten Stock, hin zur Balustrade, und platzieren mit zitternden Fingern die restlichen Flugblätter. Die junge Frau gibt einem Stapel einen Stoß, sodass die Blätter langsam hinabsegeln, herunter in den Lichthof und dabei fallen, als tanzten sie frei durch die Luft.

Der Lichthof der LMU

Da packt eine Hand den jungen Mann. “Ich verhafte Sie!”, ruft Jakob Schmid triumphierend, Pedell, und später reichlich belohnter Angestellter der Universität. Er hatte, so berichtet er, das Szenario beobachtet, die beiden Gestalten jedoch nicht erkennen können, weshalb er die Treppen des Lichthofs hinaufrannte und den Missetäter Hans Scholl selbst verhaftete. “Lächerlich so etwas”, so Hans’ Antwort, “es ist eine Unverschämtheit, einen in der Universität herinnen festzunehmen.”

Die Fortsetzung der Geschichte der Flugblattaktion der Weißen Rose hat sich in der Geschichte des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus etabliert wie keine andere. Die Geschwister Sophie und Hans Scholl werden am 18. Februar festgenommen, verhört, ihnen am 22. Februar der Prozess gemacht und sie noch am selben Tag zusammen mit Mitstreiter Christoph Probst gegen 17:00 Uhr mit der Guillotine im Gefängnis München-Stadelheim enthauptet. Am 13. Juli folgen Alexander Schmorell und Kurt Huber, sowie am 12. Oktober Willi Graf.

Insbesondere Sophie Scholl steht für den aktiven Widerstand wie keine andere, was einerseits durch die Veröffentlichung der (Auto-)Biographie Inge Scholls Die Weiße Rose (1952) zustande kommt, andererseits aber auch auf ihrer Geschlechtsidentität beruht. Sophie bildet zusammen mit ihren Freunden als einzige Frau den Kern der Widerstandsgruppe und kämpft dadurch nicht nur gegen den Nationalsozialismus – sie tritt auch für ihr Geschlecht ein. Sie wird zur starken weiblichen Figur des Widerstandes.

“Wenn jeder nur eine Meinung hat gegen dieses System, aber nicht handelt, so macht er sich schuldig. Diese ganze Katastrophe ist nur möglich, weil keiner schreit, und die Soldaten draußen, wie die Leute drinnen, brav arbeiten und dadurch ihr Leben einsetzen für diesen Staat. Ich jedenfalls will nicht schuldig werden […] Wenn jetzt Hitler daherkäme, und ich eine Pistole hätte, würde ich ihn erschießen. Wenn es die Männer nicht machen, muss es eben eine Frau tun.”

Susanne Hirzel (1921-2012), Sophies Freundin und überlebendes Mitglied der Weißen Rose

Der enge Kreis an Widerstandskämpfern will eigentlich keine Frauen in die gefährliche Arbeit einweihen – bis auf Sophie. Es ist gut gemeinte Fürsorge, die jedoch vor einem Geschlechterbild steht, das Frauen unterdrückt und unterschätzt. Diese Vorstellung bricht Sophie, indem sie zeigt, wozu sie fähig ist, dass sie mindestens genauso viel leisten kann und will wie ihre männlichen Kollegen. Aber es ist ein harter und kontinuierlicher Kampf.

Am 25. Januar 1943 steigt sie mit einer Aktentasche und einem Rucksack in den Zug nach Augsburg, beladen mit 2000 Flugblättern und Briefen. Die Briefe wirft sie noch in Augsburg ein – unaffällig, versteht sich – bevor sie sich mit ihren Flugblättern auf den Weg nach Ulm macht, um sie Hans Hirzel (1924-2006) zu übergeben, der Mitglied der Ulmer Abiturientengruppe, die in Verbindung zur Weißen Rose steht, ist. Eine Gepäckkontrolle im Zug hätte Sophies Aktion auffliegen lassen können. Aber wie durch ein Wunder erfüllt sie ihre Aufgabe ohne Probleme. Mit dieser Kurierfahrt schließt sie sich den anderen Kurieren wie Willi Graf und Alexander Schmorell an und zeigt, dass sie als Frau zu einem derartigen Wagnis genauso in er Lage ist wie ihre männlichen Kollegen. Nur drei Tage später gehen Hans, Willi und Alex ein neues Wagnis ein und verteilen Flugblätter in der Nacht vom 28. auf den 29. Januar. Sie schließen Sophie von dieser Aktion aus: es sei zu gefährlich, meinen sie. Ob es nun purer Leichtsinn war, steht nicht zur Debatte, aber wahrscheinlich ist es ihr Versuch, sich als ebenbürtig zu beweisen, als sie die folgenden Nächte alleine loszieht, mehr und mehr Flugblätter in ihrer Aktentasche mitnimmt, und sie auf parkenden Autos oder in Telefonzellen ablegt. Anders als Hans, Willi und Alex ist sie auf sich allein gestellt, nicht gesehen zu werden, rechtzeitig zu wissen, wann Gefahr naht. Und wieder gelingt es ihr wie durch ein Wunder.

Und so wird sie zum Mythos der deutschen Geschichte, zur zelebrierten Freiheitsheldin. Es ist Sophies Büste, die sich in der Walhalla Gedenkstätte im Donaustauf bei Regensburg befindet, es ist Sophie, der das Multimediaprojekt Ich Bin Sophie Scholl des SWR und BR gewidmet ist, es ist Sophie, deren Geburtstag heute gefeiert wird.

Neben dieser Heroisierung lässt sich leicht vergessen, dass am 22. Februar 1943 nicht nur eine Freiheitskämpferin ihr Leben verloren hat, sondern auch eine Tochter, eine Schwester, eine Verlobte, eine Freundin – eine geliebte Person, die ihr Leben gerne in Freiheit gelebt hätte, einer Freiheit, die viel zu oft als Selbstverständlichkeit hingenommen wird. Sophie Scholl ist kein abstraktes Konzept, sondern war ein lebensfroher Mensch, der seine Motivation und Kraft nicht zuletzt aus eben dieser Lebenslust gezogen hat.

Die lachende Sophie

Photographien Sophies stellen sie als ernste, determinierte Widerstandskämpferin war wie auf dem berühmten Bild am Münchner Ostbahnhof vom 23. Juli 1942, als sie ihren Bruder und Christoph Probst auf deren Weg in die Sowjetunion verabschiedet. Besorgt sitzt sie da und blickt Hans an, der etwas aufzuschreiben scheint, eine Margarite in der Hand haltend und mit strengem Seitenscheitel. Es ist ein Bild, das sie in einem anderen Licht zeigt als sie – laut eigener Aufzeichnungen und Berichten anderer – gewesen sein soll.

“Ich bedaure die Leute, die nicht über jede Kleinigkeit lachen können, d.h. nicht an jedem Ding etwas zum Lachen entdecken können, Salz u. Pfeffer des täglichen Lebens. Das muß mit Oberflächlichkeit nichts zu tun haben. Ja ich glaube, in der traurigsten Minute könnte ich noch etwas Lächerliches finden, wenn nötig.”

Sophie Scholl am 1. Februar 1940 (oder 1941) an Fritz Hartnagel (1917-2001)

Ein weniger bekanntes Bild des gleichen Tages, ebenfalls eine Aufnahme von Jürgen Wittenstein, zeigt sie lachend mit ausgebreiteten Armen hinter einem Zaun stehen, vor dem ihre Freunde auf ihrem Weg an die Ostfront zu sehen sind – lachend.

Aufnahme von Jürgen Wittenstein: Vor der Abfahrt in die Sowjetunion

Vielleicht ist es Sophies Umgang mit ihrer Angst und Anspannung, der sie dazu verleitet, auf ihre Lebensfreude und ihren Optimismus zurückzugreifen. Sie war davon überzeugt, es könne alles gut werden, eine gute Zukunft geben, eine lebensfrohe und freie Zeit in nicht allzuweiter Ferne. Als sie schließlich Fritz’ Adresse im Lazarett in die Finger bekommt, schreibt sie ihm einen blumigen, hoffnungsvollen Brief, der sie von einem Morgen träumen lässt: “Und nun ist dies Wiedersehen, das uns bevorsteht, für mich so anders als alle anderen. So als würdest du zurückkehren, um ganz dazubleiben. Und wenn ich bisher zu müde war zum Plänemachen, weil sie ja doch durch den Krieg alle zu Schanden wurden, so schießen sie jetzt empor wie Urwaldblumen nach einem langen warmen Regen, so bunt und ungeheuerlich. Doch sie wollen mir gar nicht ungeheuerlich vorkommen, sondern alle durchführbar.”

Es ist nicht zuletzt ihr Lebensmut, ihr Optimismus, ihre Hoffnung und ihr Lachen, die ihr die Kraft aufzustehen geben, die ihr eine Motivation bieten, für eine bessere Zukunft zu kämpfen. Wir sehen Sophie Scholl als willensstarke, determinierte und mutige Widerstandskämpferin, die mit eisernem Willen bis zum Schluss gekämpft hat, und malen dabei ihr Bild in schwaz und weiß und vergessen dabei leicht, auch aufgrund der Schwarz-Weiß-Aufnahmen, dass ihr Leben nicht minder farbig war.

Sophie als Künstlerin

Schon in der Schule zeichnet sich ihr künstlerisches Talent und Interesse ab. Im Fach Kunst werden ihre besonderen Leistungen vermerkt. Sie ist von Natur aus begabt, und zeichnet sich zudem durch genaue Beobachtung ihrer Umgebung, ihrer Mitmenschen aus. Besonders gern zeichnet sie Kinder, später auch ihre Geschwister. Sophie übt intensiv und bekommt Stunden bei mit der Familie befreundeten Malern. Sie illustriert zwei Märchen, die Inge geschrieben hat. Im Herbst 1937 besucht Sophie die Ausstellung zu „entarteter“ Kunst in München, sieht Werke von Klee, van Gogh, Beckmann, Marc, Kandinsky. Und auch von Paula Modersohn-Becker, die sie bewundert und deren Postkarten sie sammelt. Für die Schule malt sie ein Gemeinschaftsbild; „zärtlich u. pünktlich bis ins Kleinste“ – „ein wunderbares Märchenbild, auf dem man nach einer Stunde Betrachtung noch nicht alles entdeckt hat“. Illustrationen fertigt sie auch zu Handpeter Nägeles deutsche Übersetzung von „Peter Pan“, und noch andere. Das Gestalten von Bildern gibt ihr im Angesicht des Krieges Freude. Sie sieht nicht ein, „warum man im Krieg nur die grausig ernstesten Dinge tun darf“. Genauso Musik und Tanz. Sie liebt es zu singen, spielt Klavier, Gitarre, Akkordeon, Orgel und Flöte. Mit ihren Geschwistern und Freunden trifft sie sich mit anderen zum tanzen. Sophie liebt Tango, Englisch-Waltz und Foxtrott – in den Augen einer Schulkameradin eine eher „unanständige“ Tanzweise. In einem Brief an Fritz schreibt sie ihm, dass sich ihre Schwester Inge einen Blüthnerflügel kaufen wolle, und freut sich auf die Konzerte, die sie veranstalten wollen. In Krauchenwies besucht sie morgens heimlich die Kirche, wo ihr ein Pfarrer erlaubt auf der Orgel zu spielen. Im Lager hat Sophie schon ihre „zeichnerischen Talente glänzen lassen“. Sie darf die Vormittage im Dienstzimmer verbringen und dort malen.

Nach Ende ihres Dienstes hofft Sophie, endlich studieren zu können. Doch schon wieder wird sie enttäuscht: Sie muss weitere sechs Monate in einem Kinderhort arbeiten, ehe sie ihr Studium beginnen kann. Frustriert schreibt sie an Hans: „Ich werde ein altes Weib, bis ich zu studieren anfangen kann.“ Die Arbeit ist hart, doch die Kinder wachsen ihr ans Herz. Oft zeichnet sie die Kinder, vor allem Säuglinge. In deren „fast blicklose[r] Blick“ sieht sie eine „eben erschlossene Blüte, einzig, unantastbar und so erhaben, ein Wunder in unserem Alltag“. Auch für das Windlicht, eine Sammlung des literarischen und diskursiven Austausches der Geschwister Scholl und einiger Freunde, zeichnet Sophie. Schwester Inge sammelt die Briefe und Materialien der anderen, bindet sie zusammen und schickt sie an alle. So können sie ihre gemeinsamen Lesestunden auch über Distanz und Trennung hinweg fortführen – jedoch nur ein schmaler Trost für Sophie. Sie bemüht sich, etwas niederzuschreiben, doch sei fühlt sich leer und einsam. Ihr fehlen die anderen, die Dynamik des Gesprächs. Trotzdem schreibt sie einen Aufsatz, und schickt auch eine ihrer Zeichnungen: das Gesicht eines Säuglings. Das Gesicht wirkt zart, die Haut weich, die zusammengekniffenen Augen im Traum versunken.

„An den Briefen, glaube ich, sind wir beide gleich froh. Was liest Du?“ – Lesen und Schreiben

Sophie liest. Schon von Kind an begleiten sie Bücher, und sie tun es auch noch, als sie getrennt ist von ihrer Familie, ihren Freunden, ihren Liebsten. Das Lesen gibt ihr Kraft durchzuhalten und ihren Geist weiter zu „härten“.

Sophie Scholl, 1942

Gleichzeitig nehmen der Austausch über die Werke verschiedener Autor:innen viel Raum ein in den Briefen, die sie ihren Geschwistern, ihrer Freundin Lisa und ihrem Freund Fritz schreibt. Diskussionen über Literatur, aber auch Empfehlungen bestimmter Bücher sind ein wichtiger Bestandteil schriftlicher Gespräche – Gespräche, die in Zeiten der Trennung die einzige Verbindung zwischen Sophie und den Menschen, die sie liebt, schaffen.

1937 lernt Sophie Fritz beim Tanzen kennen. Kurz darauf beginnt ein Briefwechsel, der bis zu Sophies Tod anhält. Sehen tun sie sich selten; Fritz ist Soldat und über die gemeinsamen Briefe halten sie die Verbindung. Die Post des anderen wird sehnsüchtig erwartet und gibt Halt. Immer wieder schreibt Sophie von den Büchern, die sie gerade liest, die sie bewegen. Ab und zu schickt sie ihm auch Gedichte, etwa von Manfred Hausmann: „Du solltest sie öfters lesen, bis Du Dich in seinen Ton hineingefunden hast. Sie berühren Dich sonst vielleicht nicht. Die mir gerade am besten gefallen, habe ich angestrichen.“ Beharrlich ermutigt Sophie Fritz zu lesen, jeden Tag – egal, wie schwer es sei. Eine Regel, die Sophie selbst eisern befolgt.

Während ihres Arbeitsdiensts im April 1941 ist Lesen eine der wenigen Möglichkeiten dem Lager Krauchenwies zumindest gedanklich zu entfliehen. Sophie fühlt sich dort wie eine Gefangene. Die sechs Monate, die sie dort den Reicharbeitsdienst ableisten muss, sind für sie eine Qual. In der Hoffnung dem RAD durch eine Ausbildung im sozialen Bereich zu entgehen lernt Sophie nach dem Abitur den Beruf der Kindergärtnerin. Die Arbeit mit Kindern breite ihr zwar „große Freude“, doch sie findet sich selbst „zu egoistisch erzogen“, als dass sie ihn auf Dauer ausüben könne. Die Ausbildung erspart ihr den RAD allerdings nicht – als Sophie nach einem Jahr fertige Kindergärtnerin ist, ist dieser längst auch für Frauen Voraussetzung fürs Studium geworden. Sophie fühlt sich einsam – trotz der achtzig anderen Mädchen, die genau wie sie ihren Dienst in einem heruntergekommenen Schlossgebäude verrichten. Sophie hält sich abseits: „Bisher konnte ich mich noch ziemlich im Hintergrund halten, Dank meiner Schüchternheit.“ Statt sich am „Geschwätz“ der anderen zu beteiligen liest sie – ihr „einziger Höhepunkt außer der Postausgabe“.

Nach einem langen Tag der Arbeit liest Sophie abends im Bett Augustinus und „Der Zauberberg“ von Thomas Mann – obwohl die „Arbeitsmaiden“ eigentlich keine Bücher besitzen dürfen. Besonders Augustinus ist für Sophie eine Stütze. Ihrer Freundin Lisa schreibt sie, dass sie „allabendlich Augustinus lese“. In einem Brief an ihre Schwester Inge nennt sie „das abendliche kalte Abduschen und das abendliche Lesen“ ihre „Stützpunkte“. Die Bücher, die sie in ihrem Spind ansammelt, sind „das einzige, was dem Tag noch ein bißchen Inhalt gibt“. Sie will sich „zusammennehmen“, das Lesen abends solle ihr dabei helfen. Jeden Abend liest sie einen Abschnitt aus dem Augustinus-Band, auch wenn die Lektüre mühsam ist und sie nur langsam voran kommt: „Ich muß oft laut vor mich hin lesen, um den Sinn der Worte zu erfassen, und dann liegen sie unbeweglich in mir, ohne daß ich sie könnte mir zu eigen machen.“

Lesen und Schreiben; sie dienen Sophie nicht nur, ihren Geist im öden Trott des Arbeitslagers anzustrengen. In ihren Briefen kann sie sich ausdrücken, ihren Gefühlen und Gedanken Raum geben und eine Antwort erwarten. Ihrem Bruder schreibt Sophie, seine Briefe seien „wie der Luftzug aus einer anderen sehr weiten Welt, in die [sie] gern und bald eintreten möchte“. Da Sophie an keine Bücher kommt, senden ihr ihre Geschwister regelmäßig Buchpakete und Leseanregungen. Die geben Sophie Kraft und das Gefühl einer direkten Verbindung zu ihrer Familie: „Von Hans kriegt ich heute einen Brief und ein Buch. Manchmal ist das hier ein wunderbares Gefühl, Post zu kriegen von solchen Menschen, wie Ihr alle [es] seid, eine gute Stütze den vielen gegenüber.“

Als Sophies sogenannter Kriegshilfsdienst im Kinderhort vorüber ist, darf sie endlich studieren. Sie schreibt sich für Biologie ein und wird schnell in den Freundeskreis ihres älteren Bruders Hans aufgenommen, der in München bereits Medizin studiert. Hier lernt sie Alexander Schmorell, Christoph Probst, Willi Graf und viele weitere kennen. Sie treffen sich in der Villa von Hans’ Professor Carl Muth,  sprechen über Literatur, Kunst, und sehnen sich nach Freiheit. Doch der Krieg holt sie ein. Ihr Bruder und seine Freunde werden als Sanitäter an die Ostfront berufen. Ein Fliegerangriff auf München zerstört Muths Villa, zerstört den Ort von Abenden von Gesprächen und Diskussionen. In den Semesterferien muss Sophie in einer Ulmer Schraubenfabrik arbeiten – eine geist- und leblose Arbeit. Der ewige Maschinenlärm, die Sirenen, die harte körperliche Arbeit machen den Dienst kaum erträglich.

Im Sommer 1942, bevor sie in die Sowjetunion abreisen, haben Hans Scholl und Alexander Schmorell bereits Schriften gegen Hitler verschickt. Auch Sophie ist mittlerweile involviert und wartet auf die Rückkehr ihres Bruders und seiner Freunde.

In Gedanken ist sie auch immer viel bei Fritz. Sehnsüchtig wartet sie auf seine Briefe, die sie Ende des Jahres 1942 manchmal erst nach langen Pausen erreichen: „Immer noch warte ich vergeblich auf Post von Dir. Diese lange Pause muß ich um so öfter an Dich schreiben.“ Unermüdlich fragt sie, ob er noch zu lesen habe: „Ich möchte Dich immer wieder dazu anspornen, und wenn es noch so sauer wird. Wir haben ja unsern Verstand zum Denken bekommen, das ist eine Arbeit, aber kein Gefühl wird sie uns ersparen können.“ Den Verstand schulen, einen harten Geist und ein weiches Herz haben – im Angesicht eines Elends, das „stumpf machen will“.

„Nieder mit Hitler“

Sophies Verlobter Fritz liegt mit schweren Erfrierungen und von den Ereignissen an der Front traumatisch belastet in Lemberg im Lazarett, erfährt Sophie einen Tag bevor die Nachricht des Untergangs in Stalingrad offiziell gemacht wird. “Der Kampf um Stalingrad ist zu Ende.” und die Armee ist “unter der vorbildlichen Führung des Generalfeldmarschalls Paulus der Übermacht des Feindes und der Ungunst der Verhältnisse erlegen” heißt es am 3. Februar 1943 im Großdeutschen Rundfunk, die grausame Schlacht beschönigend. Und eben jene Schlacht wird der Auslöser für das sechste Flugblatt werden, in der Hoffnung, die entsetzten und aufgewühlten Kommiliton:innen erreichen zu können, wie Sophie später im Verhör berichten wird. “Dreihundertdreißigtausend deutsche Männer hat die geniale ­Strategie des Weltkriegsgefreiten sinn- und ­verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt. Führer, wir danken dir!”, schreibt das das Blatt, direkt unter der direkten Ansprache Kommilitoninnen! Kommilitonen!. “Beresina und Stalingrad flammen im Osten auf, die Toten von Stalingrad beschwören uns! / ‘Frisch auf, mein Volk, die Flammenzeichen rauchen!’”

VI. Flugblatt der Weißen Rose nach der Schlacht von Stalingrad

Wie tief tatsächlich die Schreckensnachricht von Stalingrad sitzt, und zu welchem neuen Eifer er in der Weißen Rose anregt, macht sich in der Nacht vom 3. auf den 4. Februar 1943 deutlich. Zwei männliche Gestalten schleichen durch die dunklen Straßen, ausgerüstet mit einer selbstgemachten Schablone und Pinsel und schwarzer Teerfarbe. Sie wählen öffentliche Gebäude in der Innenstadt, sichtbare Flächen, die sofort ins Auge stechen sollen. Nieder mit Hitler heißt es, daneben ein durchgestrichenes Hakenkreuz. Ganze 29 Mal, werden Passant:innen am nächsten Morgen feststellen, haben diese Gestalten die Wände beschrieben. Als sie schließlich den Haupteingang der Universität erreichen, schreiben sie in riesigen Buchstaben das Wort Freiheit auf die Wand, gleich zweimal. Höchst zufrieden mit sich tapsen sie zurück nach Hause. Als sie schließlich an einer Straßenlaterne vorbeikommen, fällt ein Lichtstrahl auf ihre Gesichter: es sind Hans Scholl und Alexander Schmorell.

“Die Nacht ist der Freien Freund.”

Sophie zu ihrer Schwester Elisabeth

Fallende Blütenblätter

Am 16. Februar 1943 adressiert Sophie ihren letzten Brief an Fritz, unwissend, dass es das letzte Mal sein wird, dass sie ihrem Verlobten im Lazarett schreibt. “Gestern habe ich einen wunderbaren blühenden Stock gekauft, er steht vor mir auf dem Schreibtisch am hellen Fenster, seine graziösen Ranken, über und über mit zarten lila Blüten besetzt, schweben vor mir und über mir. Er ist meinen Augen und meinem Herzen eine rechte Freude, und ich wünsche mir nur, dass Du kommst, bevor er verblüht ist. Wann wirst Du nur kommen?” Als dieser Brief Fritz schließlich am 22. Februar erreicht, berichtet er ihr in seiner Antwort von den Sonnenstrahlen, die durch sein Fenster in den Raum hineinfluten und den Frühling ankündigen. Als Fritz den Brief öffnet, fallen ihm “als erstes zarte lilarote Blütenblätter in den Schoß”, nicht ahnend, dass die Absenderin dieser Nachricht bereits nicht mehr am Leben war.

Die Weiße Rose bestand natürlich nicht nur aus Sophie Scholl – deshalb wird die NN-Redaktion in den kommenden Monaten auch weitere Mitglieder der Widerstandsgruppe vorstellen. Freut euch darauf, weitere bemerkenswerte Menschen kennenzulernen!

Literatur
Beuys, Barbara; Sophie Scholl., München: Carl Hanser Verlag, 2010.
Ellermeier, Barbara: Sophie Scholl. Lesen ist Freiheit!, München: bene Verlag, 2018.
Gottschalk, Maren; Wie schwer ein Menschenleben wiegt. Sophie Scholl. Eine Biographie. (2020), München: C. H. Beck, 2020.
Gottschalk, Maren: Schluss. Jetzt werde ich etwas tun. Die Lebensgeschichte der Sophie Scholl, Weinheim Basel: BELTZ & Gelberg Verlag, 2012.
Hartnagel, Thomas (hrsg.); Sophie Scholl, Fritz Hartnagel, Damit wir uns nicht verlieren. Briefwechsel 1937-1943., Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2008.
Hirzel, Susanne; Vom Ja zum Nein. Eine schwäbische Jugend 1933-1945., Tübingen: Silberburg-Verlag, 2000.
Schlingensiepen, Ferdinand: Vom Gehorsam zur Freiheit. Biografien aus dem Widerstand, München: dtv, 2014.
Scholl, Inge; Die Weiße Rose, erweiterte Neuausgabe., Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2009.
Sophie Scholl, Brief an Lisa Remppis, 2. Februar 1943. IfZ ED 474, Bd. 70.
Zoske, Robert M.: Sophie Scholl: Es reut mich nichts. Porträt einer Widerständigen, Berlin: Ullstein Verlag, 2020.
https://www.weisse-rose-stiftung.de

Bildnachweise
Lichthof LMU: https://de.wikipedia.org/wiki/Wei%C3%9Fe_Rose#/media/Datei:Lichthof_Nr_2.jpg
Porträtaufnahmen Sophie Scholl und Flugblatt: https://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/weisse-rose/60955/sophie-scholl
Aufnahme Bahnhof sowie Schriftzug: https://www.weisse-rose-stiftung.de

Header: Johanna Böttiger
Layout: Marius Oberberger

Veröffentlicht von nomennominandum

Die Nomen Nominandum ist das Magazin der Student*innen des Historischen Seminars der LMU. Folgt der NN, deNN sie ist sehr gut!

Ein Kommentar zu “Sophie Scholl. Von der Freiheit zu lachen

  1. Leider waren waährend der NS-Zeit nur wenige Menschen so mutig, wie Sophie Scholl und ihre Freunde. Die meisten waren wohl, eher Mitläufer im Beruf, bei Kollegen und hatten Angst unangenehm aufzufallen. Deshalb ist es wichtig, dass man solche Vorbilder hat und heute versucht, die NS-Zeit im Alltag, Beruf und Firmen wissenschaftlich aufzuarbeiten, damit Mitläufertum und krasses Versagen im Unrecht so in Zukunft nicht mehr vorkommen. Deshalb haben z.B. viele Firmen Studien in Auftrag gegeben über das Verhalten von Eigentümern, Management und Mitarbeitern in der Diktatur. Das kann aber nur ein erster richtiger Schritt sein. Es bleibt noch viel zu tun ! Es wurde zu wenig getan !

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