Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg – Ein Erfolgsmythos?

von Verena Pirschlinger

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und in den unmittelbaren Nachkriegsjahren verloren etwa 12 bis 14 Millionen Deutsche im Osten Europas ihr Zuhause durch Flucht und Vertreibung. Schätzungsweise sind dabei 600.000 bis 2,8 Millionen ums Leben gekommen. Heute gilt ihre Integration in die deutschen Nachkriegsgesellschaft oft als vorbildliche Erfolgsgeschichte, vor allem im Vergleich zur Integration anderer Gruppen wie Gastarbeiter oder Asylbewerber. Doch auch diese Integration war erheblichen Schwierigkeiten ausgesetzt und lief nicht für alle Gruppen gleich ab.

Abbildung 1: Ausschiffung von Flüchtlingen

Flucht vs. Vertreibung

Für die Deutschen, die im Zuge des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat im Osten verloren haben, wird seit 1953 der Begriff „Vertriebene“ verwendet, während als Flüchtlinge in dieser Zeit vor allem Menschen bezeichnet wurden, die aus der Deutschen Demokratischen Republik in die Bundesrepublik Deutschland flohen. Dennoch gab es Unterschiede zwischen Flucht und Vertreibung.

Flucht

Von einer Flucht vor der Roten Armee waren hauptsächlich die sogenannten „Altreichsdeutschen“ betroffen, also Deutsche aus den damaligen Ostgebieten des Reiches, beispielsweise Pommern, Ostpreußen, Ostbrandenburg oder Schlesien. Diese Gebiete und damit auch ihre Einwohner waren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Teil des deutschen Staates und damit auch von Beginn an Träger der deutschen Staatsbürgerschaft.
Sie flohen schon relativ früh, beginnend im Winter 1944/45 vor Gräueltaten durch die sowjetischen Truppen. Dabei machten sich die meisten noch zu Zeiten der nationalsozialistischen Herrschaft auf den Weg, was die Fluchtbedingungen erheblich erschwerte. Trotz der Tatsache, dass es Evakuierungspläne gab, wurden diese in der Regel nicht rechtzeitig umgesetzt. Die Propaganda beharrte auf der Sicherheit der deutschen Reichsgebiete, beim frühzeitigen Verlassen der Heimat drohte den Bewohnern die Todesstrafe. Daher verließen viele Deutsche ihre Heimat erst unmittelbar oder auch gleichzeitig mit dem Eintreffen der Roten Armee. Dies trug dazu bei, dass die Flucht oftmals chaotisch und unorganisiert ablief.
Viele Flüchtende wurden Opfer von Vergewaltigungen, Verschleppungen zur Zwangsarbeit ihn die Sowjetunion oder Ermordung. Flüchtlingstrecks wurden oftmals von sowjetischen Kampfflugzeugen auf freiem Feld aus der Luft beschossen, Evakuierungszüge attackiert. Auch der verzweifelte Fluchtversuch tausender Ostpreußen über die zugefrorene Ostsee wurde durch Bombardements erschwert. Zahlreiche Flüchtende ertranken im eisigen Wasser. Unter den Todesopfern befanden sich auch besonders viele Ältere, aber auch Kleinkinder und Babys, die nicht selbst gehen konnten und bei den Minustemperaturen erfroren.
Dennoch, oder gerade weil die Menschen ihre Heimat plötzlich und überraschend verließen, glaubten viele, bald zurückkehren zu können. Ihren Aufenthalt in den Aufnahmegemeinden sahen sie oftmals als vorübergehend an.

Vertreibung

Während die meisten Altreichsdeutschen noch während des Krieges flohen, wurden viele sogenannte „Auslandsdeutsche“ erst nach Kriegsende vertrieben. Dazu gehören unter anderem Siebenbürgen aus Rumänien, Donauschwaben aus Ungarn und auch Sudetendeutsche aus Tschechien. Diese hatten als deutschsprachige Minderheiten teilweise schon seit Jahrhunderten, bevor sich das europäische Staatensystem wie wir es heute kennen, herausbildete, in osteuropäischen Gebieten gelebt. Viele waren an das Leben als Minderheit gewohnt und besaßen auch keine deutsche Staatsbürgerschaft, zumindest bis zur Besatzung durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Daraufhin gelangten viele an einen deutschen Pass und auch Privilegien gegenüber der einheimischen Bevölkerung.
Nach Kriegsende kam es zu Massakern und Unterdrückungsmaßnahmen gegenüber den deutschen Minderheiten. Auf der Konferenz von Potsdam im Sommer 1945 wurde von den Alliierten ihre legale Ausweisung beschlossen.

1946 verloren beispielsweise über drei Millionen Sudetendeutsche ihre Heimat, wobei eine Million in Bayern eine neue Heimat fand. Auch sie mussten ihr Zuhause oftmals zu Fuß, oder auch in überfüllten Güterwaggons verlassen. Dabei wurde keine Rücksicht auf das Zusammenbleiben von Familien genommen.

Abbildung 2: Ankunft von Flüchtlingen in Meldorf

Viele Eltern hängten ihren Kinder Pappschilder mit ihrem Namen um den Hals, in der Hoffnung, sie somit im Aufnahmelager wiederzufinden.

Ankunft und erste Nachkriegszeit

Während die Unterbringung der ersten Flüchtlinge gegen Kriegsende sehr chaotisch verlief, entstanden bald die ersten Durchgangs- und Flüchtlingslager. Dort lebten die Vertriebenen auf engstem Raum unter katastrophalen hygienischen Bedingungen. Daher wurden viele bald bei der einheimischen Bevölkerung, vor allem auf dem Land, zwangseinquartiert.
Die Einheimischen zeigten sich über die Neubürger oft wenig begeistert. Bayern nahm allein zwei Millionen Vertriebene auf und war damit eins der größten Aufnahmeländer. Jeder fünfte Bayer der Nachkriegszeit war ein Vertriebener und sogar jeder vierte Oberbayer. Die Einheimischen mussten ihren oft geringen Wohnraum daraufhin jedoch nicht nur mit Ausgebombten, sondern auch mit Vertriebenen teilen. Deren Sprache und Kultur war dabei oftmals völlig fremd, häufig wurden sie als Polen diffamiert. Besonders in Bayern wurden auch die Flüchtlinge aus den ehemaligen Gebieten Preußens aufgrund ihrer Herkunft und ihres Dialekts abgelehnt.
Dabei gibt es jedoch auch Geschichte unglaublicher Solidarität und Hilfe zwischen Geflüchteten und Einheimische. Es wird von lebenslangen Freundschaften berichtet. Auch durften teilweise Evangelische Gemeindesäle in komplett katholischen Gemeinden für ihre Gottesdienste nutzen.
Dennoch war das Zusammenleben auf engstem Raum, in einer von Mangel und Zerstörung geprägten Nachkriegsgesellschaft auf jeden Fall eine große Herausforderung für alle Beteiligten.
Schwierig war es vor allem für evangelische Flüchtlinge. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs gab es in Bayern kaum Gemeinden mit gemischter Konfession. Auch die Schulen waren Konfessionsschule, sodass Lehrer mit anderer Religion dort nicht unterrichten durften und Schüler lediglich als Gastschüler akzeptiert wurden.
Dennoch, auf lange Sicht waren Flucht und Vertreibung das Ende dieser alten Ordnung. Es gab kaum mehr Gemeinden mit nur eine Konfession und nach langem, zähem Kampf mit der Kirche wurden auch die Konfessionsschule abgeschafft.
Trotzdem setzte schon bald eine Landflucht bei den Vertriebenen ein. Die Ausbildungs- und Wohnmöglichkeiten waren in der Stadt bald wieder besser und auch die Hoffnung auf eine Rückkehr in den ursprünglichen Beruf bestand.

Vertriebenensiedlungen

Während viele Vertriebene in die großen Städte zogen, gründeten einige auch neue. Dies war vor allem bei Sudetendeutschen beliebt, von denen viele ihre ursprünglichen Betriebe in Bayern neu gründeten. Daraufhin siedelten sich auch ehemaligen Arbeiter in der Umgebung an und ganze Städte entstanden neu, in denen in den ersten Jahren fast ausschließlich Vertriebene wohnten, beispielsweise Waldkraiburg, Neugablonz (in der die ehemalige Gablonzer Schmuckindustrie ein neues Zuhause fand) oder auch Geretsriet.

Integration – für jeden anders

Dennoch fand schon bald eine Vermischung mit der Aufnahmegesellschaft statt. Vor allem vertriebene Männer schlossen aufgrund des Männermangels bald „Mischehen“ mit einheimischen Frauen. Für junge Männer war es daher erheblich leichter, Anschluss zu finden als für junge Frauen. Auch fiel es Kinder, Jugendliche und jungen Erwachsenen sehr viel leichter als Älteren, die oftmals einen Großteil ihres Lebens im Herkunftsland verbracht hatten und weniger Zeit in der Aufnahmegesellschaft verbringen würden. Teilweise wurden Kinder dabei von ihren Eltern zur Assimilation ermutigt, teilweise versuchten sie, eine Verbundenheit mit der alten Heimat aufrechtzuerhalten. Viele hatten noch lange Zeit den Wunsch, in ihre Heimat zurückzukehren. Es wurden Parteien und Landsmannschaften der einzelnen Vertriebenengruppen zur Wahrung der Interessen und des Brauchtums gegründet.
Besonders schwierig war es auch für die gehobene Besitzschicht wie Großgrundbesitzer, aber auch für Landwirte, sich in die neue Gesellschaft einzugliedern. Menschen, deren Lebensunterhalt auf ortsabhängigem Besitz beruhte, hatten meist mit einem erheblichen Absinken des Lebensstandards zu kämpfen.
Dennoch glückte die Integration innerhalb der ersten zwanzig Jahre nach der Flucht für die meisten, was einen vergleichsweise sehr kurzen Zeitraum darstellt. Dennoch nutzten viele die Chance, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ihre alte Heimat zu besuchen. In der Regel jedoch nicht als Rückkehrer, sondern als Gäste. Oft entstanden Freundschaften mit den neuen Bewohnern der Häuser und es hatte fast den Anschein, als könnten die Wunden des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Krieges wieder heilen.

Wahrscheinlich niemand in Europa hätte geglaubt, dass wir im Jahr 2022 wieder eine Fluchtwelle dieses Ausmaßes innerhalb von Europa erleben, wie wir sie gerade in der Ukraine beobachten können. Niemand weiß, wie sie enden wird, ob eine Rückkehr in die Ukraine möglich und sinnvoll für den Großteil der Geflüchteten sein wird, oder ob sie in Westeuropa eine neue Heimat finden. Was wir wissen, ist, dass unser Land schon einmal eine große Fluchtwelle gemeistert hat. Sicher, damals waren es deutschsprachige gewesen, die kamen, aber die Situation von Nachkriegsdeutschland ist mit der heutigen kaum zu vergleichen. Und auch viele Vertriebene hatten Schwierigkeiten bei der Integration, wurden nicht mit offenen Armen empfangen und wünschten sich sehnlich eine Rückkehr in ihre Heimat. Dennoch wurde diese Herausforderung im Großen und Ganzen gut gemeistert. Noch ist die Willkommensbereitschaft gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen viel größer als diejenige nach dem zweiten Weltkrieg. Hoffen wir, dass das so bleibt.

Literaturnachweise:
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Busley, Hermann-Joseph – Endres, Rudolf – Kimminich, Otto – Maier, Jörg – Wolff, Klaus-Dieter (Hrsg.): Die Entwicklung Bayerns durch die Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge. Bd 12. München 2009.
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Abbildungsnachweise:
Abbildung 1: Bundesarchiv Bild 146-2004-0127, CC-BY-SA 3.0, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en, via Wikimedia Commons, „Ausschiffung von Flüchtlingen“, (https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/9c/Bundesarchiv_Bild_146-2004-0127%2C_Ausschiffung_von_Fl%C3%BCchtlingen.jpg)
Abbildung 2: Bundesarchiv Bild 146-2004-0130, CC-BY-SA 3.0, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en, via Wikimedia Commons, „Meldorf, Ankunft von Flüchtlingen“, (https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/ce/Bundesarchiv_Bild_146-2004-0130%2C_Meldorf%2C_Ankunft_von_Fl%C3%BCchtlingen.jpg)


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