Das Leben der Täter

von Jonas Hey

Im Historienfilm The Zone of Interest von Jonathan Glazer sehen wir das Leben der Familie Höß am Rande des Konzentrationslagers. In ruhigen Bildern wird ein schrecklich normales Leben mit Schüssen und Hundebellen im Hintergrund gezeigt.

Zu Beginn sehen wir eine Gruppe von Menschen, vermutlich eine Familie mit Angestellten, die zusammen auf einer Wiese an einem See picknickt und später, wie die Kinder schwimmen gehen. Wir sehen die Familienidylle von Rudolf Höß, der ab 1940 als Kommandant das Konzentrations- und Vernichtungslager von Auschwitz leitet und in dieser Funktion am Holocaust beteiligt ist. Der Film basiert lose auf dem gleichnamigen Roman und der deutsche Titel Interessensgebiet wurde von der SS für das Gelände verwendet, auf dem das Konzentrationslager errichtet wurde.

Abb. 1: Sandra Hüller als Hedwig Höß im Garten mit Baby

Stiller Beobachter

Die Kamera ist fast immer stationär. Es fühlt sich an, als würde man als Zuschauer in einer Ecke des Raumes oder des Gartens stehen und das Geschehen verfolgen. Es gibt keine typischen Aufnahmen der Gesichter, die normalerweise Nähe zu den Charakteren erzeugen sollen und vor allem die Gesichter beim Sprechen zeigen. Diese körperliche Nähe ist gar nicht gewollt. Stattdessen bleibt der Zuschauer ein neutraler Betrachter des Alltäglichen und Schrecklichen.

Doch auch die alltäglichen Szenen haben etwas Unangenehmes, etwa wenn KZ-Häftlinge im Garten arbeiten oder Schuhe putzen. Trotz dieser Alltäglichkeit wissen wir, dass diese Arbeit den Häftlingen ein Überleben sichern kann. Ähnlich unangenehm sind die Szenen mit den Haushaltshilfen, die sich verstohlen und äußerst vorsichtig von Zimmer zu Zimmer bewegen. Es wirkt, als herrsche im Hause Höß ein strenges Regiment, das bereits kleine Fehler bestraft. Abgesehen von einem Wutanfall sehen wir keine physische Gewalt. Wir fühlen höchstens ein Knistern von drohender psychischer Gewalt.

Hintergrundgeräusche des Schreckens

Wie beschrieben sind nur Haus und Garten der Familie Höß sowie ein wenig umliegende Natur sichtbar. Vom Konzentrationslager sehen wir nur eine Betonwand mit Stacheldraht und darüber hinaus einige Lagergebäude. Doch von der Gewalt und den Verbrechen im Lager sehen wir nichts. Stattdessen können wir sie hören: Wenn die Personen durch den Garten laufen, hört man Schüsse, Schläge oder Hundebellen. Auch sieht man den weißen Rauch eines vorbeifahrenden Zuges und hört dessen schweres Rumpeln.

Zwischen den Szenen hört man verzerrte elektronische Geräusche, die man nicht als Musik einordnen kann. Sie scheinen die Verzerrung der Realität zu symbolisieren. Es besteht ein Dissens zwischen den Bildern, die wir im Film sehen, und denen, die wir am Rande eines Konzentrationslagers erwarten. Auch könnte man die Geräusche als Leiden der Figuren interpretieren. Direkt äußern die Figuren selten Unbehagen, doch wir sehen eine Angestellte, die nachts in ihrem Zimmer zu Alkohol greift, wohl um die Schrecken des nahen KZ zu übertünchen.

Abb. 2: Der Garten mit Pool an der Außenwand des Konzentrationslagers

Leben im Paradies

Der ruhige Garten neben dem Konzentrationslager erinnert an die Paradiesvorstellungen verschiedener Religionen. Es ist eine Oase mit Schwimmbecken und Apfelbäumen, in der die Menschen das Leben genießen und abschalten können. Dies wird nicht nur durch das Visuelle, sondern auch durch das Gesprochene unterstützt. Hingegen ist Rudolf Höß in der Mitte des Films überrascht, dass er in die Verwaltung der Konzentrationslager nach Berlin versetzt werden soll. Er scheint zu naiv zu sein, um zu erkennen, welche Schrecken er verbreitet. Dies kontrastiert der Regisseur mit der nächsten Szene, in der der Wahnsinn von Höß gezeigt wird: Er befiehlt, Wachmänner zu bestrafen, die den Flieder in falscher Weise schneiden.

Illusionen

Seine Frau Hedwig Höß sieht Haus und Garten als Teil der NS-Siedlungspolitik, wonach „Lebensraum“ im Osten gefunden und zur Not geschaffen werden sollte. Als solchen bezeichnet sie ihren dortigen Besitz und sieht sich damit an vorderster Front der Erfüllung von NS-Propaganda. Mit dieser Einschätzung verkennt sie die eigene Lage und scheint das nahe Konzentrationslager vollständig auszublenden. Für sie mag es sich bei Haus und Garten auch um einen Sehnsuchtsort handeln, doch lebt sie dabei in einer Illusion. So bleibt sie auch nach der Abberufung ihres Mannes mit ihren Kindern im Haus wohnen.

Gegen Ende des Films sehen wir Rudolf Höß in einem Bürogebäude in Berlin. Dort geht er nach einem Ball eine Treppe hinunter und starrt in einen Gang. Daraufhin verändert sich die Szenerie und man sieht Mitarbeiter der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, wie sie Scheiben putzen oder Räume fegen. Dadurch werden wir jäh aus der normalen Welt von Rudolf Höß gerissen und sehen stattdessen die realen Folgen seiner Handlungen und dem Holocaust. Seine Familie mag idyllisch neben dem Konzentrationslager gelebt haben, aber in Wirklichkeit hat sich dort das Grauen abgespielt.

Ein Film anderer Art

Was bleibt also von diesem Film? Es ist kein klassisches Drama, in dem die wir die Schrecken des Holocaust sehen und damit gemahnt werden, die Geschichte nicht zu wiederholen. Auch geht es nicht wie bei Schindlers Liste um das Heldentum Einzelner, die trotz der Gefahren Juden das Leben gerettet haben. Stattdessen zeigt der Film als Anti-Drama das normale Leben der Familie Höß. Die Schrecken nehmen wir nur als Hintergrundgeräusche wahr.

Der Film The Zone of Interest kam am 29. Februar 2024 in die deutschen Kinos und erhielt den Oscar in den Kategorien „Bester Ton“ und „Bester internationaler Film“.

Abb. 1: © Leonine Studios
Abb. 2: © Leonine Studios

Header: © Leonine Studios


Layout: Dominika Tóthová
Header: Katharina Bawidamann

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