Karl der Große: Der „Vater Europas“?

von Caroline Diekmann

Nationalheld des 19. Jahrhunderts in deutschen Gebieten und in Frankreich, aber auch Identifikationsfigur der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Bei diesen beiden Auffassungen kann man sich kaum vorstellen, dass sie sich auf die gleiche Person beziehen: Die Rede ist natürlich von Karl dem Großen. Warum haben sich diese Sichtweisen entwickelt? Kann der Kaiser wirklich als „Vater Europas“ bezeichnet werden? Und was bedeuten all diese Fragen für die Geschichtswissenschaft?

Abb. 1

Zeitgenössische Quellen

Grundsätzlich muss man bei der Suche nach dem Ursprung der Bezeichnung Karls als „Vater Europas“ erstmal ins 9. Jahrhundert zurückgehen. Ein anonymer Dichter beschreibt Karl im Epos „Karolus Magnus et Leo Papa“ nicht nur als pater europae, sondern z. B. auch als „Europas ragende[n] Leuchtturm“ oder „verehrungswürdigen Gipfel Europas“.  Damit möchte er die Bedeutung des Kaisers betonen und ihn loben, ohne allerdings konkrete Anhaltspunkte für ein europäisches Reich zu haben. Karls Herrschaftsgebiet wurde zu seiner eigenen Zeit bzw. unmittelbar danach nicht als europäisch gesehen, sondern als fränkisches Großreich.

In dieser Fülle ist der Dichter des Epos der Einzige, der Karl wirklich mit Europa verknüpft und wiederholt anbringt. Zwar lassen andere Autoren den Europa-Begriff nicht unerwähnt, er wird jedoch hauptsächlich dazu genutzt, um eine stilistische Abwechslung der Benennungen für das Reich zu ermöglichen. Außerdem tauchen die Benennungen häufig erst nach Karls Tod im Jahr 814 auf. Die Autoren möchten damit im Nachhinein seine Herrschaftszeit als bedeutender darstellen, indem sie sein Reich auf den ganzen Kontinent beziehen. Nennenswert für diese Quellen ist z. B. Theodulf von Orléans, der um 820 Karls Herrschaftsgebiet als „Europa“ beschreibt. Ab 820 war das Frankenreich deutlich instabiler als noch unter Karl, weshalb Theodulf auf die Gefahr hinweist, in die sich das Reich begibt, wenn zwischen den Herrschern, die Karl nachfolgten, Machtstreitigkeiten ausbrechen.  Mit einem Rückbezug auf Europa wollte er Karls Reich als vereinigten, idealen Kontinent darstellen – auch wenn es eigentlich als Frankenreich gesehen wurde. 

Diese beiden mittelalterlichen Quellen sind mit wenigen anderen die Ausnahme, wenn es darum geht, Karl mit dem Europa-Begriff in Zusammenhang zu bringen. Daher ist die Quellengrundlage für das heutige Verständnis bzw. Übertragung des Begriffs nicht so groß, dass man sich darauf stützen könnte, um Karl als Vater Europas zu bezeichnen. Das überlieferte Epos ist die einzige Quelle, in der wirklich die Worte pater europae genannt werden.

Renaissance im 19. Jahrhundert

Im Laufe der Zeit wird dann die nationale Bedeutung Karls des Großen immer größer. Der Höhepunkt wird zunächst im 19. Jahrhundert erreicht. Bis auf Wilhelm Schlegel, der den Kaiser Karl vorsichtig auch aus einer europäischen Perspektive interpretiert, überwiegen die Meinungen, die Karl als Gründer ihrer jeweiligen Nation sehen. Für Frankreich ist hier natürlich Napoleon nicht zu vergessen. Er sah die Möglichkeit, durch Karl seine Herrschaft und besonders seine Krönung dynastisch zu legitimieren. Napoleon behauptete, dass er durch seine Eroberungen das Imperium Karls des Großen erneuert habe – besonders durch die Verbindung von Frankreich und Deutschland. Sein Herrschaftsgebiet sollte durch das Erbkaisertum ein Nachfolgereich werden und das kontinentale Europa unter der französischen Herrschaft vereinigen. Diese Perspektive Napoleons, die vor allem durch seine Mittelalterbegeisterung angefacht wurde, nahmen auch Zeitgenossen auf: Napoleon wurde mit Karl verglichen, u. a. durch den damaligen Bischof von Aachen: „Die Asche Carls wird wieder lebendig, und seine Seele lebt in Napoleon“.

Nach den Befreiungskriegen und dem Ende des Wiener Kongresses 1815 wandelte sich die Sichtweise auf Karl den Großen in Deutschland, die zuvor von Napoleon geprägt war. Von den meisten deutschen Historikern und Schriftstellern wurde er nun als „deutsch“ interpretiert. Sie orientierten sich an der Betrachtung der Franken als Germanen, die sie als ihre Vorfahren sahen. Das sich neu entwickelnde Bürgertum sah damit in den Deutschen die Nachfolger der Franken unter Karl. Auch Bismarck verehrte Karl den Großen und wollte nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 betonen, dass die Deutschen seine Erben seien. Ein Zeichen dafür ist, dass das Niederwalddenkmal am Rhein, seiner Idee nach, Karl den Großen hätte abbilden sollen. Damit hat er sich jedoch nicht durchgesetzt, stattdessen kann man dort heute noch die Germania betrachten.

Interpretation in der NS-Zeit

In der Zeit des Nationalsozialismus gab es unterschiedliche Sichtweisen auf Karl. Diese lassen sich in zwei verschiedene Perspektiven einteilen, die beide versuchten, das nationalsozialistische Regime zu rechtfertigen. Zum einen existierte die negative Interpretation des Kaisers: Karl als „Sachsenschlächter“ (Hermann Löns) habe die Freiheit und Religion der „nordischen Rasse“ unterdrückt. Als Gegenheld wurde Widukind inszeniert, der versucht habe, sich dagegen zu wehren. Vor allem Alfred Rosenberg, führender NS-Ideologe, war dieser Meinung.

Er musste allerdings eine Kehrtwende vollziehen, als Adolf Hitler sich der anderen Perspektive auf Karl den Großen zuwandte: Karl der Große habe die verschiedenen germanischen Völker vereinigt, wodurch sich später das Deutsche Reich habe bilden können. Die Schrift, die hierzu von einigen deutschen Historikern verfasst wurde, hieß: „Karl der Große oder Charlemagne“. Die Argumentation richtete sich vor allem gegen Frankreich. Dass Frankreich durch die eigene Interpretation von Charlemagne versuchte, Karl den Großen für seine Nationsbildung zu beanspruchen, sei ein Zeichen dafür, dass sie sich geographisch ausdehnen wollen würden.

Hitler versprach sich von dieser Interpretation zwei Dinge: Erstens sah er darin eine Möglichkeit, seine Gewaltausübung zu rechtfertigen, weil auch Karl brutal vorgegangen sei. Zweitens suchte er in Frankreich Zustimmung, indem er sich auf den Frankenkönig berief. Eine SS-Division aus kollaborierenden Franzosen wurde sogar „Division Charlemagne“ genannt. Hier konnte Hitler Karl den Großen als vereinigende Symbolgestalt ausnutzen. Aber unabhängig davon, welche Auffassung man betrachtet, kann man sagen, dass Karl der Große als historische Figur im Nationalsozialismus komplett verzerrt wurde, um zu versuchen, die Macht und Gewalt, die man über andere Nationen und Teile der deutschen Bevölkerung brutal ausübte, zu rechtfertigen.

Moderne Sichtweise

Nach dem 2. Weltkrieg änderte sich die Sichtweise auf Karl maßgeblich. Er wurde von dort an als Begründer des westlichen Europas gesehen, was auch an der Verleihung des Karlspreises (für Persönlichkeiten, die sich um die europäische Einigung und Europa verdient gemacht haben) ab 1950 erkennbar ist. Diese neue Sichtweise hatte ebenfalls den Zweck, sich von der Sowjetunion abzugrenzen, weil das Frankenreich sich unter Karl nur auf Westeuropa beschränkte. Deshalb waren Historiker diesbezüglich auch ab Mitte des 20. Jahrhunderts schon kritisch. Mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 konzentrierte man sich auf den europäischen Einigungsprozess, bei dem man sich das Reich unter Karl dem Großen zum Vorbild nehmen konnte.

Fazit

Aus Sicht der Historiker*innen heute ist auch die Sichtweise aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht belegbar. Karl wird grundsätzlich nur noch als Franke gesehen – und nicht als Franzose, Deutscher oder Europäer. Auch wenn in manchen Quellen von seinem Reich als Europa geschrieben wird und er sogar ein Mal die Bezeichnung „Vater Europas“ erhält, lässt sich die Idee von Karl als Gründungsfigur nicht ausreichend belegen. Dennoch finde ich es vertretbar, für die Öffentlichkeit eine Identifikationsfigur zu schaffen. Das kann dabei helfen, ein Gemeinschaftsgefühl zwischen den europäischen Bürger*innen zu schaffen und für mehr Toleranz zu sorgen.

Quellennachweis:
Karolus Magnus et Leo papa, hg. und übers. von Franz Brunhölzl, Paderborn 1966.

Literaturnachweise:
Fried, Johannes: Karl der Große. Gewalt und Glaube, 3. Aufl., München 2014.
Kerner, Max: Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, Köln/Weimar/Wien 2000.
Oschema, Klaus: Bilder von Europa im Mittelalter (Mittelalter-Forschungen 43), Ostfildern 2013. 
Oschema, Klaus: Ein Karl für alle Fälle – Historiografische Verortungen Karls des Großen zwischen Nation, Europa und der Welt, in: Europäische Erinnerung als verflochtene Erinnerung. Vielstimmige und vielschichtige Vergangenheitsdeutungen jenseits der Nation, hg. von Gregor Feindt et al. (Formen der Erinnerung 55), Göttingen 2014, S. 39-63.

Abbildungsnachweis:
Abb. 1: Albrecht Dürer: Kaiser Karl der Große, Germanisches Nationalmuseum, Wikimedia Commons (gemeinfrei)


Layout: Dominika Tóthová
Header: Dominika Tóthová

Veröffentlicht von nomennominandum

Die Nomen Nominandum ist das Magazin der Student*innen des Historischen Seminars der LMU. Folgt der NN, deNN sie ist sehr gut!

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