Europa – Begriffsgeschichte in Altertum und Mittelalter

von Yannick Helmschrott

Es ist schwer zu bestreiten, dass es kaum einen Begriff gibt, der so eindeutig und gleichzeitig so vielschichtig und unklar verwendet wird, wie der Begriff „Europa“. Für einige ist er schlicht die Bezeichnung für einen schwer von Asien abgrenzbaren (Sub)kontinent oder einen Kulturraum, während andere ihn mit der Europäischen Union in Verbindung bringen oder sogar gleichsetzen. Manfred Sappers bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „‘Europa‘ ist keine aus der Geographie oder der Religion ablesbare Tatsache, sondern je nach Zeit und Kontext werden seine Grenzen und seine Identität immer wieder zur Disposition gestellt und neu definiert.“ Im Folgenden soll ein kurzer historischer Überblick über das Europakonzept vom Altertum bis ins Mittelalter erfolgen.

Die Prinzessin Europa als Namensgeberin des Kontinents

Folgt man der griechischen Mythologie, so ist Europa erst einmal eine Frau, konkret die bildschöne Tochter von Agenor, dem König von Tyrus. Zeus, welcher sich unsterblich in die attraktive phönizische Königstochter verliebt hatte, entsann nun einen Plan, die Schönheit zu entführen und zu notzüchtigen. Er verwandelte sich in einen Stier und mischte sich unter die Herde ihres Vaters. Beim Pflücken von Blumen erblickte die Maid den in einen Stier verwandelten Zeus, welcher aufgrund seiner Anmut und Holdseligkeit zugleich ihr reges Interesse weckte. Sie begab sich zu ihm, streichelte seine Flanken und legte sich schließlich auf seinen Rücken. Zeus nutzte diese Gelegenheit, eilte zum Strand und schwamm mit ihr zur Insel Kreta. Dann enthüllte er seine wahre Identität, zeugte drei Söhne mit ihr und erhob sie zur ersten Königin Kretas. – Soweit der wenig feministische Mythos.

Die Anfänge von Europa als geographische Begrifflichkeit

Die erste in der Literatur belegte Verwendung von Europa als geografische Begrifflichkeit findet sich im Hymnus auf den Delischen Apoll aus der Zeit um 700 v. Chr. (nach anderer Meinung auch wesentlich jünger) und bezieht sich dort auf die Westküste der Ägäis. Als Name für einen Teil der bekannten Welt wird er erstmals im 6. Jhd. v. Chr. von dem Philosophen Anaximander und dem Geographen Hekataios verwendet, wobei Anaximander die Grenze zwischen Asien und Europa entlang des Phasis (heute Rioni, Georgien) verlegt. Auch Herodot, welcher witzelnd darauf hinweist, dass Europa den nach ihr benannten Kontinent niemals selbst betreten hat, folgt dieser Einteilung der Welt, erwähnt aber, dass manche eher den Don als den Phasis als Grenze zwischen Europa und Asien betrachten. Was Europa ist, bzw. was seine Grenzen sind, das war also schon damals umstritten. Bereits in der Antike erfuhr das Konzept einer Dreiteilung der Welt im Übrigen eine Ergänzung durch das Konzept einer Zweiteilung in Okzident und Orient, wobei dem Orient die wichtige Funktion des Abgrenzungskonzeptes zukam.

Abb. 1: Europa auf Stier, Fresko aus Pompeji

Etymologie

Über den Ursprung des Worts Europa ist viel debattiert worden. Teilweise hat man die Hypothese eines semitischen Ursprungs ins Spiel gebracht – demnach leitet sich Europa vom akkadischen oder phönizischen Wort erebu oder arab „untergehen“ (auf die Sonne bezogen) oder aber von dem davon abgeleiteten phönizischen erob „Abend, Westen, Sonnenuntergang“ ab. Europa – das ist demnach also das Abendland. Diese Deutung hat bereits im 19. Jhd. teils scharfe Kritik erfahren. Die meisten Philologen führen den Begriff auf εὐρύς, eurýs, „weit, breit“ und ὄψ, óps, „Sicht, Gesicht, Antlitz“ zurück, woraus sich die Bedeutungen „die mit der weiten Sicht“, „die Weitsichtige“ oder auch „die Breitgesichtige“ ergibt. Dieser Erklärungsansatz ist teils wieder mit einer hypothetischen indogermanischen Urreligion in Verbindung gebracht worden, bei der der Begriff „Breit“ ein Beiname der Erde, der Erdgöttin, gewesen sei. Zu belegen ist diese These kaum.

Europa und die Ökumene

Aber kehren wir zurück zur Verwendung des Begriffs. Etwa im Zweiten Jahrhundert vor Christus, zu der Zeit, da der Begriff endgültig auf seine heutige Verwendung im Sinne des Kontinents – mit dem Don als Grenze –  festgelegt wird (wobei angemerkt werden sollte, dass bis ins Mittelalter hinein manchmal noch der Dnister oder gar die Donau als Grenze aufgefasst wurde) – erfährt der Begriff in seiner klassischen Verwendung durch das apokryphe Buch der Jubiläen eine Verknüpfung mit der Ökumene. Europas Völker – das sind demzufolge die Nachkommen des Noahsohnes Jafet, in Afrika leben die Nachfahren seines Bruders Ham und in Asien jene des ältesten der drei Söhne Noahs – Sems. Die Vorstellung wurde von dem jüdischen Historiker Flavius Josephus (37/38–100) und christlichen Autoren aufgegriffen und blieb weit in die Neuzeit hinein überaus einflussreich. Eine feste Begrenzung der Nachfahren Jafets auf Europa war – das soll hier nicht unerwähnt bleiben – allerdings nicht bei allen christlichen Autoren gegeben. So lässt Isidor von Sevilla (560–636) die Nachfahren Jafets nicht nur in Europa, sondern auch in Kleinasien siedeln. Honorius Augustodunensis verband mit diesem Konzept im 12. Jhd. die Vorstellung, dass Jafets Nachkommenschaft (nicht die Nachfahren des Sems, welche Gott zu Dienern der Nachfahren des Jafet gemacht hätte), bzw. der christliche Kontinent Europa bereits nach der Sintflut zum Heil erwählt worden sei.

Europa und das Reich der “Anderen”

Im Jahr 754 taucht dann zum ersten Mal der Begriff Europäer – in der Form des lat. Neologismus Europenses – in einer christlich-iberischen Chronik eines anonymen Verfassers auf. Erstmals – so der Autor darin über die Schlacht bei Tours 732 – sei es den Europäern gelungen über ein Heer der Ismaeliten (Muslime) zu triumphieren. Der Autor kreiert in diesem Kontext bewusst einen Gegensatz zwischen dem christlich gedachten Europa und den muslimischen Arabern. Eine Deutung des Europabegriffes, die sich im Verlauf des Frühmittelalters unter den Karolinger und Liudolfingern weiter verfestigen sollte. „Europa“ wird nun immer häufiger als „transnationaler Abgrenzungsbegriff gegenüber anderen“ (BORGOLTE, S. 23) verstanden – seien es nun Wikinger, Sarazenen oder Hunnen. Im Übrigen etabliert sich mit dem Begriff „Franken“ – nicht Europäer – bei den Byzantinern und Muslimen ab dem 12. Jhd. ein ganz eigener Begriff für die heterogene Masse der angreifenden Christen “aus dem Westen”.

Europa – schon damals vielfältig

So geeint und homogen, wie sich manche mittelalterlichen das „christliche Europa“ gerne vorstellen mochten, ist es indes nie gewesen. 1332 verleiht ein Dominikaner in einer Denkschrift an den französischen König der Vielgestalt des europäischen Kontinentes ihren gebührenden Ausdruck. Er verweist auf die Heidenvölker im Osten Europas und auf die Sarazenen in Spanien. Auch die Christen teilten nicht alle das gleiche Bekenntnis und die Vielfalt an Sprachen und Kulturen sei so gewaltig, dass man sie kaum überschauen könne.

Ausblick

Unbestreitbar bleibt jedoch, dass der Europabegriff des Mittelalters im Wesentlichen ein Abgrenzungsbegriff blieb, und er blieb es auch in der frühen Neuzeit. Die Aufklärer und ihre Vordenker setzten Fortschritt, kulturelle Überlegenheit und Zivilisation an die Stelle des Christentums. In dieser Zeit, an der Wende zum 18. Jahrhundert, erfolgte dann auch die Eingliederung Russlands in den „europäischen Kulturkreis“ und die Verschiebung der Grenzen des Europäischen Kontinents an den Ural. Ausgelöst wurde diese Versandung des Ufers durch die Reformen Peters des Großen. Ein eindrücklicher Beweis für den Opportunismus, wenn es darum geht, die Grenzen eines Kontinents festzulegen. Im frühen 19. Jahrhundert wurde Russland – bedingt durch die politische Großwetterlage – im Übrigen wieder zu einem Teil Asiens. Es setzten zwei Jahrhunderte des schizophrenen Hin- und Herwechselns ein. Auch heute ist die Frage aus politischen Gründen wieder das Thema hitziger Debatten.
An dieser Stelle bestätigt sich das zu Beginn geäußerte Zitat von Manfred Sappers.

Literaturnachweise:
AKIL: The Visual Divide Between Islam and the West, 2016.
ALEXANDER: Guide to Hellenismos, 2007.
BORGOLTE: Vom Ende der Nationalgeschichte. In: Geschichte des Mittelalters für unsere Zeit, 2003.
JACOBI: Der Name Europa. In: Europa. Chronik der gebildeten Welt, 1873.
KAISER: Neue Fischer Weltgeschichte, Band 3, 2014.
LÖW: Ein anderer Blick auf Russland. Geschichte, Lebensformen, Denkweisen, 2020.
MEIER: Culture of Freedom, 2011.
MÜLLER: Begriffsgeschichte im Umbruch, 2005.
VOCELKA: Geschichte der Neuzeit, 2020.

Abbildungsnachweise:
Abb. 1: Europa, Fresko aus Pompeji,   ArchaiOptix, Wikimedia Commons, (CC BY-SA 4.0)


Layout: Dominika Tóthová
Header: Jonas Rodewald

Veröffentlicht von nomennominandum

Die Nomen Nominandum ist das Magazin der Student*innen des Historischen Seminars der LMU. Folgt der NN, deNN sie ist sehr gut!

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