Die Pestpogrome – Judenverfolgungen von 1348 bis 1351 im Heiligen Römischen Reich

von Verena Pirschlinger

Im Mittelalter waren Verfolgungen und Pogrome für die im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation lebenden Juden, die sogenannten aschkenasischen Juden, trauriger Alltag. Die verheerendsten und schwersten Ausschreitungen fanden während den Pestpogromen von 1348 bis 1351 statt. Sie unterschieden sich von den anderen Verfolgungen dieser Zeit dadurch, dass sie das gesamte Reich und nicht nur einzelne Regionen erfassten, wodurch am Ende der Pestpogrome fast alle jüdischen Gemeinden im Heiligen Römischen Reich ausgelöscht und die Mehrheit der dort lebenden Juden ermordet worden waren. Bekannt sind diese Pogrome bis heute durch ihre Begründung. Der Mythos der Brunnenvergiftungen durch Juden ist immer noch vielen Menschen ein Begriff. Dabei handelte es sich jedoch, anders als die meisten Menschen glauben, nicht um den Grund für die Pestpogrome, sondern vielmehr um ihre Begründung.

Judenverfolgungen im Spätmittelalter

Die Verfolgung von Juden im Heiligen Römischen Reich intensivierte sich erst am Ende des 12. Jahrhunderts, davor war sie eher die Ausnahme als die Regel. Ab diesem Zeitpunkt wurden Juden jedoch immer häufiger und intensiver verfolgt. Dieses Phänomen hängt mit der Verdrängung der Juden aus Handel und Handwerk durch das Aufkommen der Zünfte zusammen. Da Katholiken die Beschäftigung in Pfand- und Kreditleihe strengstens verboten war, wurden Juden, die durch ihren Ausschluss aus den Zünften wenig andere Betätigungsmöglichkeiten hatten, bald mit Wucherern gleichgesetzt.
Vorwand für die Verfolgungen war in der Regel die sogenannte „Hostienfrevellegende“ oder „Ritualmordbeschuldigung“. Die „Hostienfrevellegende“ beschuldigte die Juden des Diebstahls und der Schändung von geweihten Hostien. Da eine geweihte Hostie im katholischen Glauben eine Wandlung hin zum Leib Christi durchlaufen hat, wurde eine Schändung dieser mit der (angeblich wiederholten) Ermordung von Jesus Christus gleichgesetzt, da Juden für dessen Tod verantwortlich gemacht wurden. Die „Ritualmordbeschuldigung“ ging davon aus, dass Juden christliche Kinder töten und ihr Blut für Rituale missbrauchen würden. Beides wurde immer wieder als Vorwand für Verfolgungen und Pogrome herangezogen.
Im Mittelalter basierte die Ablehnung und Verfolgung von Juden also auf Antijudaismus, der religiös begründet war, anstatt wie der Antisemitismus des 20. Jahrhunderts auf rassistische Begründungen zurückzugreift.

Die Pest

Die Pestpandemie, die 1347 Europa erreichte, war eine der verheerendsten Pandemien dieses Kontinents und wurde dadurch zur existentiellen Krisenerfahrung für die Menschen des Mittelalters. Während der folgenden Jahre starb schätzungsweise jeder dritte Europäer an der Seuche, deren Herkunft und Ursprung sich die Menschen nicht erklären konnten und gegen die es keine wirksamen Therapien oder Schutzmaßnahmen gab.
1348 erreichte die Pest Südfrankreich. Noch im gleichen Jahr fanden nicht nur in Frankreich die ersten Judenpogrome statt, sondern auch im Süden des Heiligen Römischen Reichs. Bis 1350 erfassten die Pogrome das komplette Reichsgebiet. 

Die Begründung der Pogrome

Auch im Bereich der Begründung unterscheiden sich die Pestpogrome von den anderen Verfolgungen des Mittelalters. „Hostienfrevellegende“ und „Ritualmordbeschuldigung“ spielten hier keine Rolle. 
Während der Pestzeit verbreitete sich das Gerücht, dass alle Juden Teil einer weltweiten Verschwörung wären, mit dem Ziel, durch die Vergiftung der Brunnen alle Christen zu töten.
Anders als viele Menschen glauben, entstand dieses Gerücht nicht erst zu Pestzeiten. Vielmehr verbanden sich hier zwei schon länger bekannte Theorien. Dazu gehört einmal die der jüdischen Brunnenvergiftung, die bereits bei anderen unerklärlichen, nicht-epidemischen Todesfällen Jahrzehnte zuvor eine große Rolle gespielt hatte. Sie wurde verbunden mit der Theorie der jüdischen Verschwörung, die davon ausging, alle Juden seien Teil einer großen weltweiten Verschwörung mit dem Ziel, alle Christen aus Hass zu töten. Oft gingen Anhänger auch davon aus, die Juden seien im Bund mit dem Antichristen.
In einer Zeit, in der die Menschen von panischer Furcht vor einer sich schnell ausbreitenden und tödlichen Krankheit erfüllt waren, deren Ursprung sie sich nicht erklären und die sie nicht aufhalten konnten, traf die Brunnenlegende auf nahrhaften Boden für ihre Verbreitung.
Jedoch war sie empirisch sehr schwer zu belegen, da auch Juden an der Pest starben. Teilweise wiesen bereits zeitgenössische Chronisten und Politiker auf diesen Umstand hin. Für die Untermauerung der Theorie spielten daher Geständnisse von Juden, die durch Folter erzwungen wurden, eine große Rolle. 

Motive hinter der Brunnenlegende

Einige zeitgenössische Chronisten stellten bereits fest, was auch die heutige Forschung erkennt: Pest und Brunnenlegende waren in der Regel lediglich Begründung, nicht Motive der Pestpogrome.
Dafür spricht vor allem auch die Tatsache, dass in der Regel mehrere Monate vergingen, bis es nach dem ersten Eintreffen der Gerüchte zu den Pogromen kam. Diese Zeit wurde von Initiatoren der Pogrome, häufig Schuldnern der Juden, genutzt, um weitere Menschen gegen die Juden aufzuhetzen. Es wurden „Untersuchungen“ in dem Zusammenhang angestellt. Teilweise wurden Juden über Wochen festgesetzt und gezwungen, aus den Brunnen der Christen zu trinken, während diese ihr Wasser aus Flüssen und Seen nahmen. Gesucht wurde oft nach einem Gift, das aus Urin, Menschenblut, Zauberkräutern und dem Pulver entweihter Hostien bestehen sollte (und angeblich teilweise sogar gefunden wurde). 
Da es sich bei der Brunnenlegende um eine Lüge handelte und die Pest nicht durch Gift, sondern durch Bakterien ausgelöst wurde, wie wir heute wissen, hatten diese Untersuchungen in der Regel keinen Erfolg, sodass es häufig noch zu erzwungenen Geständnissen kam. Doch allein schon die erfolglosen Untersuchungen befeuerten das Misstrauen der Christen gegenüber den Juden. 
In der Regel fanden die Pogrome statt, bevor die Pest selbst die Stadt erreichte (da die Menschen zu diesem Zeitpunkt sehen konnten, dass auch Juden an der Pest starben), aber die Einwohner der Städte schon von der Seuche und ihren verheerenden Folgen gehört hatten und den Wunsch verspürten, sich vor dieser zu schützen.
Die meisten Teilnehmer der Pogrome glaubten an die Brunnenlegende, teilweise sogar die Initiatoren, die eigentlich hätten wissen müssen, dass sie es waren, die die Gerüchte verbreitet hatten. Bei der Mehrheit stand dahinter jedoch der (teilweise unbewusste) Wunsch, ihre Schulden bei den Juden loszuwerden. Dafür spricht auch die große Bedeutung der Beute und der Schuldscheine während der Pogrome. In der Regel wurden die Schuldscheine sofort verbrannt und Bargeld und Wertgegenstände der Juden unter den Aufständischen aufgeteilt. Auch versuchten einige Juden vor den Pogromen, ihrem Schicksal durch Schuldenerlass zu entgehen.

Verhalten der Opfer

Die lange Vorbereitungsphase der Pogrome wirft auch die Frage auf, wie sich die Opfer zu diesem Zeitpunkt verhalten haben. Das Verhalten der Menschen des Mittelalters kann uns teilweise unlogisch oder widersprüchlich erscheinen. Jedoch darf nicht vergessen werden, dass die Juden des Heiligen Römischen Reichs schon sehr erfahren im Umgang mit Pogromen waren und die bisherigen immer von einer gewissen Anzahl überlebt worden waren. Auch spielten religiöse Vorstellungen eine sehr große Rolle.
Die Juden, die die Vorbereitung der Pogrome bemerkten, vergruben in der Regel ihre Wertgegenstände oder deponierten sie bei Christen, denen sie vertrauten. Teilweise gibt es Quellen, die von bewaffnetem Widerstand der Juden sprechen. Die Quellenlage zu den Pestpogromen ist jedoch äußerst schwierig, da die meisten von Nicht-Juden stammen. Daher können diese Berichte auch als Versuch der Rechtfertigung der eigenen Taten gelesen werden. Teilweise wurde nach den Pogromen behauptet, die Juden hätten sich bewaffnet und die Christen angegriffen, die sich hätten verteidigen müssen.
Die Mehrheit der Juden reagierte jedoch mit Beten und Fasten. Sie glaubten an einen allmächtigen Gott, in dessen Hand ihr Schicksal lag und der die Macht hätte, die Pogrome abzuwenden. Daher nahmen viele, wenn es doch zu diesen kam, die Pogrome als Willen Gottes und damit als Martyrium an. Dies erklärt auch, warum der Großteil der Juden die Zwangstaufe für sich und ihre Kinder ablehnten, die sie vor der Hinrichtung bewahrt hätte. Denn durch die Taufe hätten sie ihr Seelenheil verloren, was für viele Menschen des Mittelalters schwerer als der Tod wog.
Einige Juden retteten sich in der Regel bei fast allen Pogromen durch die Zwangstaufe. Diese brachte jedoch einige erhebliche Schwierigkeiten mit sich, da die Betroffenen hinterher von Juden wie Christen als Außenseiter und Verräter angesehen wurden und außerdem ihr Beschäftigungsfeld, ihr komplettes Umfeld und ihre Alltagsroutinen ändern mussten. Im Fall der Pestpogrome wurden getaufte Juden teilweise nach den Pestwellen von trauernden Angehörigen der Verstorbenen ermordet.

Verlauf und Folgen der Pogrome

Bis auf wenige oft wohlhabende Juden, die aufgrund ihrer finanziellen Ressourcen die Möglichkeit zur Flucht hatten, wurden alle Juden des Heiligen Römischen Reichs ermordet, in der Regel durch das Verbrennen bei lebendigem Leib. Um diesem Schicksal und der Zwangstaufe zu entgehen, begingen Juden teilweise mit ihrer kompletten Familie Suizid, auch um eine Verunehrung ihrer ermordeten Körper auszuschließen.
Viele der Geflohenen gingen in das Königreich Polen-Litauen, dessen König Kasimir III. den Juden Schutz und Vorteile versprach. Dadurch verlagerte sich das jüdische Leben Europas als Folge der Pogrome immer stärker nach Osteuropa. In den deutschen Gebieten kamen lediglich wenige Herrscher ihrer Schutzpflicht gegenüber den Juden nach, für die die Juden hohe Steuern gezahlt hatten, darunter beispielsweise der österreichische Herzog Albrecht II.
Kaiser Karl IV., oberster Schutzherr der im Heiligen Römischen Reich lebenden Juden, erfüllte seine Schutzpflicht nur für die Juden seiner Heimatstadt Prag. Die übrigen Juden „verkaufte“ der verschuldete Kaiser, teilweise direkt gegen Geld, teilweise gegen Anhänger im Thronstreit.
Die meisten Städte verhängten nach den Pogromen Verbote für den Zuzug von Juden, die jedoch schnell wieder aufgehoben wurden. Die überlebenden, zurückkehrenden Juden waren in der Regel schwer traumatisiert von den Pogromen, außerdem abermals Außenseiter und in der Minderheit, was bereits Nährboden für später stattfindende Verfolgungen darstellte.

Fazit

Die Pestpogrome stellten einen tiefen Einschnitt im Leben der aschkenasischen Juden dar. Sie waren die schlimmsten und verheerendsten Judenverfolgungen vor dem Holocaust im 20. Jahrhundert.
Das jüdische Leben verlagerte sich dadurch sehr stark nach Osteuropa hin zu den jüdischen Metropolen, die wir aus der Zeit vor dem Holocaust kennen, beispielsweise Krakau.
In der Forschung wurde lange der Einfluss der Pest auf die Pogrome diskutiert. Jahrhundertelang wurde angenommen, diese sei für die Pogrome verantwortlich. Diese Annahme wurde, ebenso wie die Theorie, Unter- und Mittelschicht seien immer Träger der Pogrome, während es sich bei Angehörigen der Oberschicht in der Regel um Beschützer der Juden handele, in der Forschung nach 1945 kritisch hinterfragt und revidiert. Heute geht die Mehrheit der Forscher davon aus, dass die Pest einen gewissen Einfluss auf die Pogrome hatte, die dahinterstehenden Motive jedoch wirtschaftlicher Natur waren.

Zusammengefasst kann davon ausgegangen werden, dass die Pogrome ohne die Rolle der Juden als Gläubiger wohl nicht in diesem Umfang stattgefunden hätten. Gleichzeitig wäre es ohne die panische Stimmung zu Pestzeiten vermutlich nicht zu derartig verheerenden Ausschreitungen, die das komplette Heilige Römische Reich Deutscher Nation umfassten, gekommen.

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Layout: Chiara Vetrano
Header: Katharina Bawidamann

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