Mittelalter Bullshit Mythen – Teil 1: Das Mittelalter war finster und die Menschen waren dumm

von Dominika Tóthová

MITTELALTER! Das böse, schmutzige, pestverseuchte, Hexen-verbrennende, dumme und vor allem dunkle Zeitalter! Keine andere Epoche hat so einen schlechten Ruf, wie diese 1000 Jahre der Weltgeschichte. Aber ist dieses negative Bild des Mittelalters wirklich gerechtfertigt? War wirklich alles so schlimm und primitiv, wie viele es sich vorstellen? Dank der Mittelalterforschung, können wir heute sagen, dass das Mittelalter alles andere war, als finster und düster. In dieser Reihe sollen vor allem Mythen rund ums Mittelalter aufgeklärt werden, in der Hoffnung, dass diese Epoche in ein etwas besseres Licht gerückt werden kann.

[Keine Lust zu lesen? Kein Problem! Wir haben eine Podcast-Folge mit mittelalterlichen Bullshit-Mythen aufgenommen! Hört gerne rein! Den Link dazu findet ihr weiter unten bei den Literaturnachweisen. Viel Spaß!]

Das Mittelalter

Bevor es an die Aufklärungsarbeit gehen kann, müssen wir zuerst wissen, was mit Mittelalter überhaupt gemeint ist. Diese Epoche beginnt (aus europäischer Sicht) nach dem Zerfall des weströmischen Reiches, also dem Ende der Epoche Antike. Datiert wird der Beginn des Mittelalters auf die Mitte bzw. das Ende des 5. Jahrhunderts – also ganz grob auf das Jahr 500 (der Zerfall des weströmischen Reiches wird auf das Jahr 476 datiert, mit der Absetzung des letzten römischen Kaisers Romulus Augustus). Das Mittelalter selbst wird dreigeteilt: in Frühmittelalter (500 bis ~1050), Hochmittelalter (1050 bis ~1250), sowie Spätmittelalter (1250 bis ~1500).

Die Menschen der damaligen Zeit wussten natürlich nicht, dass sie im Mittelalter leben. Der Begriff selber wurde aber tatsächlich bereits im Spätmittelalter von sogenannten Renaissance-Humanisten eingeführt. Als Mitbegründer dieser Bewegung zählt Francesco Petrarca (20. Juli 1304 – 19. Juli 1374; italienischer Dichter und Geschichtsschreiber). Ziel der Renaissance-Humanisten war es eine literarisch ausgerichtete Bildungsbewegung ins Rollen zu bringen. Dabei stand auch die Wiederbelebung antiker Kunst und Gedanken im Mittelpunkt. Dazu gehörte auch das Bewusstsein einer neuen Epoche anzugehören und dem Bedürfnis, sich von der unmittelbaren Vergangenheit abzugrenzen. Und mit dieser Vergangenheit meinte man das Mittelalter. Ab dem Zeitpunkt hat sich dieses Bild des finsteren Mittelalters in die Köpfe der Menschen gebrannt – bis heute. Alles, was altmodisch ist, uns Rückständig erscheint oder Denk- oder Verhaltensweisen einen Mangel an Aufklärung aufweisen, wird als mittelalterlich betitelt. Diese Ansicht verfestigte sich unter anderem auch deswegen so stark, da die Zunft der Historiker etwa um diese Zeit damit begann, die Periodisierung der Geschichte in drei große Zeitabschnitte zu teilen und im Zuge dessen das Mittelalter als Epochenbegriff eingeführt wurde.

Abb. 1: Francesco Petrarca; gilt als Mitbegründer des Renaissance-Humanismus.

Man schob also das Mittelalter ganz einfach in die Mitte, zwischen das Altertum und die Neuzeit. Das Mittelalter sollte eine Epoche des Übergangs sein, als Vorreiter zur fortschrittlicheren Moderne. Und so zog sich dieses Bild wie ein roter Faden bis in die Gegenwart. Aber, dank der Mittelalterforschung, können wir heute sagen, dass das Mittelalter alles andere war, als finster und düster. Menschen haben nicht von einem Tag auf den anderen aufgehört neugierig, kreativ, bildungshungrig und auch risikobereit zu sein. Die Traditionen aus der Antike wurden nicht ignoriert, sondern übernommen oder erweitert bzw. erneuert.

Das Mittelalter war finster und die Menschen waren dumm – Bullshit! 

Wie bereits beschrieben, wollte man sich in der Renaissance von der damaligen Gegenwart abgrenzen und dabei die Ideale der Antike aber besonders hervorheben. Der Begriff des finsteren Mittelalters, sollte schon damals die Rückschrittlichkeit der Epoche betonen. Aufgrund dessen entstanden viele Mythen, wie zum Beispiel der Mythos der flachen Erde. Und bis heute glauben noch viele Menschen, dass man im Mittelalter die Erde als eine Scheibe betrachtete. Dem ist aber nicht so! Im Mittelalter hat man die Kugelgestalt der Erde nie bestritten. Denn die Erkenntnisse über die Erde aus der Antike wurden von den Menschen übernommen, im Volk auch so weitergegeben und auch an den Universitäten gelehrt. Und ja, auch die Kirche glaubte an die Kugelgestalt der Erde. Ein Irrglaube, der im Mittelalter tatsächlich verbreitet war, war das geozentrische Weltbild – also die Vorstellung, die Erde sei der Mittelpunkt des Universums. Dieses Weltbild wurde allerdings auch aus der Antike übernommen und war keine „Einbildung“ oder „Erfindung“ der Menschen aus dem Mittelalter.
Erst mit Nikolaus Kopernikus (19. Februar 1473 – 24. Mai 1543) kam der Wandel zu einem heliozentrischen Weltbild. In seinem Werk „De revolutionibus orbium coelestium“ stützte er sich in seinem Vorwort auf eine Aussage des Kirchenvaters Laktanz (um 250 – etwa 325), welcher die Kugelform der Erde abgelehnt hat. Er zeigte so das rückständige Denken und verlieh somit seinem Werk mehr Glaubwürdigkeit. Mithilfe des Buchdrucks, dessen Erfindung unter anderem das Ende des Mittelalters einläutete, konnte seine Idee besser und schneller vervielfältigt werden. Somit rückte Kopernikus das Mittelalter, zugunsten seines mathematisch-naturphilosophischen Modells, in ein schlechtes Licht.

Abb. 2: Nikolaus Kopernikus; mit seiner Beschreibung eines heliozentrischen Weltbildes kam es im 16. Jahrhundert zur „Kopernikanischen Wende“.

Auch der Mythos, dass die Menschen Angst davor hatten vom Rand der Erde zu fallen, ist natürlich Quatsch. Das beste Beispiel, diesen Mythos zu widerlegen, sind die Wikinger, die bis nach Amerika gelangten – das Land also schon im Mittelalter entdeckten. Da es ihnen aber leider nicht gelang, Neufundland zu besiedeln und sie Amerika daraufhin wieder verließen, wird ihre Entdeckung bis heute nicht entsprechend gewürdigt.  Was waren aber die Ursachen dafür, dass sich die Skandinavier in unbekannte Gewässer wagten, in der Hoffnung, neues Land zu entdecken? Dafür können mehrere Faktoren sprechen, wie etwa Überbevölkerung, Hungersnot oder politische Wirren. Aber kann das alles sein? Neben all den negativen Faktoren, die die Skandinavier zum Verlassen ihrer Heimat zwangen, waren es auch Neugier und Abenteuerlust auf etwas Unbekanntes. Leif Eriksson (um 970 – nach 1020; isländischer Entdecker), verließ Grönland, welches im Gegensatz zu anderen Gebieten nicht überbevölkert war und wagte sich nach Amerika – ihn hat wohl die Abenteuerlust gepackt!
Auch Marco Polo (1254 – 8. Januar 1324) ist vielen ein Begriff und auch von seinen Reiseberichten wissen wir, wie seine Reisen und Entdeckungen quer durch Asien verliefen, welche vor allem auch späteren Entdeckungsfahrten nach Asien dienten.

Abb. 3: Leif Eriksson „der Glückliche“; erster Europäer auf amerikanischen Festland.
Abb. 4: Marco Polo; bekannt durch seine Reiseberichte aus Asien.

Aber nicht nur die Wikinger oder Marco Polo waren neugierig, sondern auch noch viele mehr! Seien es die genuesischen Brüder Vivaldi, die im 13. Jahrhundert einen neuen Seeweg nach Indien gesucht haben, oder Prinz Heinrich der Seefahrer (4. März 1394 – 13. November 1460), der Auftraggeber der portugiesischen Entdeckungsfahrten. Diesen Seefahrern ging es sicherlich nicht nur um Allianzen, Gewürze, Gold o.ä., sondern auch um die Neugier, was es alles auf der Welt gibt – welche Länder, Kulturen und Traditionen.
Das Positive an den Entdeckungen anderer Länder war, dass zu dieser Zeit viele Weltkarten gezeichnet wurden und somit das Bild der Welt für alle erweitert werden konnte. Einer der berühmtesten Atlanten aus dem 14. Jahrhundert (Waaas? Ein Atlant aus dem finsteren Mittelalter?) ist der Katalanische Weltatlas, der die damals bekannte Welt vom Atlantik bis nach China zeigt.
Die Karten verhalfen damals den Seeleuten bei der Orientierung und natürlich auch dem Handel.

Abb. 5: Katalanischer Weltatlas; zeigt die damals bekannte Welt vom Atlantik bis nach China.

Ein weiterer Punkt, der zeigt, warum die Menschen im Mittelalter nicht dumm und primitiv waren, war deren Lust auf Neues und deren Wissbegierde. Bereits Karl der Große führte eine Bildungsreform ein. Spätestens ab 777 begann er Gelehrte seiner Zeit an seinen Hof zu ziehen. Es entstanden, neben der Hofschule, weitere ähnliche Bildungsstätten, die sowohl alte, als auch neue Wissensinhalte vermitteln sollten. Die Bildungsreform Karls des Großen förderte vor allem auch die Wiederbelebung spätlateinischer Sprachlichkeit. Mit der Einführung einer neuen Schrift, der Karolingischen Minuskel, sollte vor allem die schriftliche Kommunikation, zum Beispiel in Urkunden, einfach und klar lesbar sein.

Abb. 6: Karl der Große; förderte eine Bildungsreform im Frankenreich.

Ab dem 12. Jahrhundert entstanden in Bologna, Paris und Oxford die ersten Universitäten – Universitäten im finsteren Mittelalter? Ja – ihr lest richtig!
Diese waren vom Papst und vom Kaiser privilegiert und genossen Lehrfreiheit sowie Selbstverwaltungsrechte. Diese Lehranstalten wurden zu den bedeutendsten Bildungszentren des Mittelalters und waren von Anfang an europäisch organisiert.
Professoren und Studenten kamen aus allen möglichen Ländern zusammen, sodass ein Länder und Regionen übergreifender Wissensaustausch ermöglicht wurde. Hat man ein Studium in einer Stadt begonnen, konnte dieses in einer anderen Stadt problemlos fortgeführt werden und nach dem Abschluss konnte man wiederum in einer anderen Stadt unterrichten – international students! Keine Erfindung der Neuzeit! 😉
Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts entstanden über 60 Institutionen der Universitätslandschaft in Europa und sie standen allen Bildungshungrigen und Begabten offen – unabhängig davon ob man Adliger oder Kleriker war oder nicht. Allein das zeigt, dass die Menschen sehr wohl mehr wissen und lernen wollten und durchaus auch dazu beigetragen haben, dass es dank und überhaupt wegen ihres steigenden Interesses an den Naturwissenschaften und der Technik zu einem Aufstieg in der frühen Neuzeit kam.

Man sieht also, dass die Renaissance-Humanisten ihrer Zeit unrecht taten, denn nicht nur in der Renaissance beschäftigte man sich mit den antiken Schriften. Wie hätten Menschen des Mittelalters sonst Zugang zu Wissen bekommen sollen, hätten sie sich nicht mit der antiken Literatur auseinandergesetzt?   
Und welches Zitat könnte diesen Mythos, dass die Menschen des Mittelalters dumm und ungebildet waren, schöner widerlegen als das Zitat von Bernhard von Chartres (? – nach 1124): „Wir sind gleichsam Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, um mehr und Entfernteres als diese sehen zu können – freilich nicht dank eigener scharfer Sehkraft oder Körpergröße, sondern weil die Größe der Riesen uns zu Hilfe kommt und uns emporhebt.
Und dieses Zitat stammt aus dem 12. Jahrhundert, also aus dem abenteuerlustigen, neugierigen und sich weiterbildenden Mittelalter.

Link zur Podcast-Folge „Mittelalter Bullshit-Mythen“: https://nomennominandumdotblog.wordpress.com/2022/01/30/mittelalter-bullshit-mythen-nn-podcast-folge-xii/

Literaturnachweise:
BOOCKMANN, Hartmut: Einführung in die Geschichte des Mittelalters, 8. Aufl., München 2007.
GOETZ, Hans-Werner: Europa im frühen Mittelalter 500-1050, in: Handbuch der Geschichte Europas, hg. von Peter BLICKLE (Band 2), Stuttgart 2003.
KNEFELKAMP, Ulrich: Das Mittelalter, 2. Aufl., Paderborn 2003.
SCHNEIDER-FERBER, Karin: Alles Mythos! 20 populäre Irrtümer über das Mittelalter, Stuttgart 2009.
SCHWARZ, Jörg: Das europäische Mittelalter I. Grundstrukturen – Völkerwanderung – Frankenreich, in: Grundkurs Geschichte, hg. von Michael ERBE, Stuttgart 2006.
WICKHAM, Chris: Das Mittelalter: Europa von 500 bis 1500, 2. Aufl., Stuttgart 2022.
Legal History Online : „2.1.10. Das Zeitalter der fränkischen Herrschaft: Die karolingische Bildungsreform“, unter: https://www.rwi.uzh.ch/static/elt/lst-thier/rgt/default_1/de/html/chapter_1_110.html (zuletzt aufgerufen am 18.02.2023).

Abbildungsnachweise:
Abb. 1: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons, „Testa di Francesco Petrarca di profilo“, (https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Francesco_Petrarca_in_portraits?uselang=de#/media/File:Testa_di_Francesco_Petrarca_di_profilo.jpg)
Abb. 2: Unknown author, District Museum in Toruń, Public domain, via Wikimedia Commons, „Nicolaus Copernicus (Porträt aus dem Rathaus in Thorn, um 1580)“, (https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Nicolaus_Copernicus?uselang=de#/media/File:Nikolaus_Kopernikus.jpg)
Abb. 3: Alta Falisa, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0&gt;, via Wikimedia Commons, „Leifur Eiríksson (Leif Erikson)“, (https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Statues_of_Leifur_Eir%C3%ADksson_in_Iceland?uselang=de#/media/File:Leifur_Eir%C3%ADksson_(Leif_Erikson).jpg)
Abb. 4: Salviati, Public domain, via Wikimedia Commons, „Mosaic of Marco Polo, Municipal Palace of Genoa: Palazzo Grimaldi Doria-Tursi“, (https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Mosaic_portrait_of_Marco_Polo_within_Palazzo_Doria_Tursi_(Genoa)?uselang=de#/media/File:Marco_Polo_Mosaic_from_Palazzo_Tursi.jpg)
Abb. 5: Abraham Cresques, Public domain, via Wikimedia Commons, „Atles català“, (https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Catalan_Atlas?uselang=de#/media/File:Atles_catal%C3%A0.jpg)
Abb. 6: Albrecht Dürer, Public domain, via Wikimedia Commons, „Charlemagne-by-Durer”, (https://commons.wikimedia.org/wiki/Carolus_Magnus?uselang=de#/media/File:Charlemagne-by-Durer.jpg)


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