Flucht und Vertreibung zum Ende des Zweiten Weltkrieges – Das Schicksal der deutschen Vertriebenenkinder

von Verena Pirschlinger

Die Flucht und Vertreibung von ca. 14 Millionen deutschstämmigen Menschen aus den östlichen Gebieten des damaligen deutschen Staates und deutschsprachiger Minderheiten Osteuropas stellte eine der größten Fluchtbewegungen der Geschichte dar. Wie viele Menschen hierbei genau ums Leben kamen, durch Hunger, Kälte oder Gewalt, ist bis heute nicht genau bekannt. Jedoch erreichten etwa 12 Millionen Menschen das Gebiet der heutigen Bundesrepublik lebend, wovon zwei Drittel in den Westzonen der französischen, britischen und US-amerikanischen Besatzer und ein Drittel in der sowjetischen Besatzungszone unterkamen. Die Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen auf der Flucht wurden lange Zeit nur wenig beachtet.

Ostpreußen – Beginn der Fluchtbewegung

Der Exodus der deutschstämmigen Bewohner Osteuropas begann im Winter 1944/45 mit der Flucht aus Ostpreußen, dem östlichsten Teil des damaligen deutschen Staats. Etwa zwei Millionen Menschen machten sich aus diesem Teil der deutschen Ostgebiete auf den Weg in Richtung Westen. Auslöser war die Furcht vor der im Winter 1944/45 schnell vorrückenden Roten Armee.

Abb. 1: Wehrmachtssoldaten bei Braunsberg, Ostpreußen

Nachdem diese erstmals die deutsche Grenze überschritten hatte, verbreiteten sich schnell Gerüchte über Folter, Vergewaltigung, Ermordung und Verschleppung der deutschen Bewohner durch die Rotarmisten. Obwohl bereits seit längerem Pläne zur Evakuierung vorlagen, erhielten die meisten Ostpreußen erst unmittelbar vor und während des Eintreffens der Roten Armee die Erlaubnis zur Evakuierung und damit Flucht. Auf Zuwiderhandlungen stand die Todesstrafe, da diese als Verrat ausgelegt wurden. 
Die meisten Ostpreußen machten sich um die Jahreswende 1944/45 oder in den ersten beiden Monaten des Jahres 1945 zu Fuß auf den Weg in Richtung Westen in dem Glauben, dies nur zur vorübergehenden Abwehr einer unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben zu tun. Viele vergruben Wertgegenstände, die sie nicht mitnehmen konnten, oder versteckten sie, um diese, so glaubten sie, wenige Monate später bei der Rückkehr in die Heimat unbeschadet vorzufinden. Die Habseligkeiten, von denen sich die Bewohner der Ostgebiete nicht trennen konnten oder wollten, nahmen sie in Rucksäcken und auf Leiterwägen mit. Bis auf wenige Glückliche, die mithilfe eines Zuges evakuiert wurden, waren die meisten Menschen bei Minusgraden im zweistelligen Bereich in Flüchtlingstrecks unterwegs, die nur langsam vorankamen. Besonders ältere Menschen, Säuglinge und kleine Kinder, die nicht den ganzen Tag selbstständig laufen konnten, erfroren auf dem Weg. Aufgrund der schwindenden Nahrungsmittelvorräte und Schwierigkeiten bei der Beschaffung neuer Lebensmittel verhungerten viele Menschen, besonders Säuglinge, deren Mütter sie nicht mehr stillen konnten. 
Aufgrund der viel zu spät begonnenen Evakuierungsmaßnahmen war den meisten Ostpreußen die Flucht über den Landweg Richtung Westen versperrt, da Ostpreußen als deutsche Enklave in Osteuropa schnell von der Roten Armee umkreist war. Den meisten Flüchtlingen blieb nur die Flucht über das Meer, entweder über Schiffe, bei denen die Gefahr bestand, torpediert zu werden, oder zu Fuß über das Frische Haff, also die zugefrorene Ostsee, teilweise unter Beschuss sowjetischer Flugzeuge. 
Aufgrund der westlicheren Lage setzte die Fluchtbewegung erst etwas später in Ostbrandenburg, mit etwa einer halben Millionen Flüchtlinge, in Ostpommern, mit ca. eineinhalb Millionen Menschen und in Schlesien mit über drei Millionen Flüchtlingen ein. Auch diese flohen häufig bei sehr kalten Temperaturen zu Fuß in Trecks Richtung Westen, machten also, mit Ausnahme der Erfahrungen der Schifffahrt und des Frischen Haffs, ähnliche Erfahrungen wie die Ostpreußen.
Während die meisten erwachsenen Männer und männlichen Jugendlichen über 16 Jahren zum Kriegsdienst eingezogen waren, flohen erwachsene Frauen mit ihren Kinder und weiblichen Jugendlichen gemeinsam Richtung Westen. 

Nach der Konferenz von Potsdam: Beginn der Vertreibung deutschsprachiger Minderheiten aus Osteuropa

Während die dramatischen und medial mittlerweile sehr präsenten Vorgänge der Flucht aus den „Ostgebieten“ im Winter 1945 also hauptsächlich deutsche Staatsbürger betrafen, wurde auf der im Sommer 1945 stattfindenden Konferenz von Potsdam über das Schicksal der deutschsprachigen Minderheiten in Osteuropa verhandelt. Hier trafen sich die französischen, britischen, sowjetischen sowie US-amerikanischen Siegermächte und beschlossen die legale Vertreibung der deutschstämmigen Bevölkerung aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei. Dies wurde jedoch auch ohne ausdrückliche Erlaubnis von Rumänien und Jugoslawien vorgenommen. 
Hierbei handelte es sich also um Menschen, die, wenn überhaupt, erst im Zuge der deutschen Besatzung die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten und davor lange als Minderheit in einem nicht-deutschen Staat gelebt hatten. Die größte Gruppe stellten hierbei die Sudetendeutschen aus dem Gebiet der Tschechoslowakei mit etwa drei Millionen Vertriebenen dar. Aber auch aus Polen wurden eineinhalb Millionen Menschen ausgewiesen und aus der Sowjetunion etwa eine Millionen deutschstämmige Menschen verschleppt. 
Die Ausweisung fand zeitlich betrachtet vor allem 1946 statt. Eine Rückkehr in die Heimat war ausgeschlossen.

Ankunft in der neuen Heimat – Das Schicksal der Vertriebenenkinder

Vor allem im Zeitraum 1945 bis 1947 kamen etwa zwölf Millionen Vertriebene aus dem Osten im Gebiet heutigen Bundesrepublik an. Wie sie mit ihrem Schicksal umgingen und inwiefern sie sich in die Aufnahmegesellschaft integrieren konnten, hing häufig auch stark von ihrem jeweiligen Alter ab. Generell galt, je jünger die Vertriebenen waren, desto besser gelang ihnen die Integration, auch in beruflicher Hinsicht. Junge Kinder gingen in der Regel in den Aufnahmegesellschaften in die Schule und strebten, häufig von den Eltern nach dem Verlust sämtlicher materieller Wertgegenstände unterstützt, einen guten Schulabschluss und eine Ausbildung an, mit der sie ihren Status verbessern konnten.

Abb. 2: Kinder in einem Flüchtlingslager in Schleswig Holstein

In diesem Zuge kamen sie trotz anfänglich bestehender Konflikte mit den Kindern der Aufnahmegesellschaft in sehr engen Kontakt. Auch in sozialer Hinsicht fand also eine sehr starke Integration bis zu Ehen mit Einheimischen statt. Bei Vertriebenen dieser Altersgruppe fand also meist eine Integration im Sinne von Assimilation statt, durch die sie die Lebensweise ihrer Heimat als Teil der kulturellen Identität oftmals einbüßten. 
Eine Ausnahme der Regel „Je jünger, desto erfolgreicher die Integration“ stellten die jugendlichen Vertriebenen unter 18 Jahren da. Bis auf die Jungen zwischen 16 und 18 Jahren erlebten diese Flucht und Vertreibung wie auch die erwachsenen Frauen und Kinder. Jedoch fühlte sich diese Altersgruppe oftmals verantwortlich für das Schicksal der Familien, vor allem für die Versorgung der jüngeren Geschwister und das Überleben in den drängendsten Notsituationen. Dadurch verloren sie die für die menschliche Entwicklung so wichtige Phase der Jugend. 
Vor allem Jugendliche aus den deutsche Ostgebieten waren oft mehrere Monate mit ihren Familien auf der Flucht, ohne Möglichkeit, sich zu waschen, unter dem Verlust der Heimatorte, materiellen Güter und häufig auch wichtiger, nahestehender Personen wie Großeltern. Auch waren sie dem Druck, Nahrungsmittel zu organisieren und der Furch vor möglicher oder auch tatsächlich erlebter Vergewaltigung, Misshandlung, Verschleppung oder Ermordung durch die Rote Armee ausgesetzt. 
Nach der Ankunft in der Aufnahmegesellschaft konnten sie die Jugendphase in der Regel auch nicht wiederaufnehmen, sondern übernahmen weiterhin Verantwortung für die Versorgung der Familie. Da die Schul- und Berufsausbildung der meisten Jugendlichen unterbrochen worden war, erreichten diese oftmals keinen Abschluss, sondern übernahmen berufliche Tätigkeiten zur Versorgung der Familie, die einen sozialen Abstieg darstellten. 

Sonderform der Vertriebenenkinder: Die „Wolfskinder“

Noch prekärer als die Lage derjenigen Kinder und Jugendlichen, die die Flucht und Vertreibung gemeinsam mit ihren Familien überstanden, war die Lage der sogenannten „Wolfskinder“. Dieser Begriff bezeichnet meist ostpreußische Kinder und Jugendliche, die auf der Flucht ihre Familien, beziehungsweise Mütter und Großeltern, verloren hatten. Dies konnte durch den Tod der Erwachsenen durch Gewalt der sowjetischen Soldaten, Hunger, Kälte, Krankheit oder Schwäche geschehen. Auch war es möglich, dass die Kinder durch Verschleppung in die Sowjetunion oder im Chaos der Flucht von ihren Mütter getrennt wurden. Auf sich allein gestellt konnten oder wollten viele Kinder den Weg Richtung Westen in das Gebiet der heutigen Bundesrepublik nicht finden.

Abb. 3: Transport zur Rückführung deutscher Kinder aus Polen nach deren Ankunft im Gebiet der heutigen Bundesrepublik

Einige kehrten in ihrer Verzweiflung in ihre Heimatorte zurück, die jedoch nicht mehr Teil Deutschlands waren. 
Die Bezeichnung „Wolfskinder“ erhielten sie unter anderem durch den Zusammenschluss einiger verwandter oder häufig fremder Kinder zu einer Art „Wolfsrudel“, die in den ostpreußischen und litauischen Wäldern lebten und gemeinsam nach Nahrungsmitteln suchten. Eine Wiedervereinigung mit möglicherweise noch lebenden Familienmitgliedern war für die meisten dieser Kinder schwierig bis unmöglich, außer, sie wurden in ein Kinderheim in der sowjetischen oder einer der westlichen Besatzungszonen gebracht. Da viele jüngere Kinder jedoch häufig nicht wussten, wie ihr Nachname richtig geschrieben wurde oder schwer traumatisiert nicht in der Lage waren, diesen widerzugeben, hatte auch der Suchdienst häufig Schwierigkeiten, Eltern oder andere Angehörige ausfindig zu machen. Dementsprechend wussten auch überlebende Eltern, aus der Kriegsgefangenschaft entlassen oder im Chaos der Flucht von ihren Kindern getrennt, häufig nicht, ob diese noch am Leben waren oder möglicherweise zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt worden waren. 
Einige „Wolfskinder“ gelangten nach Litauen und versuchten, dort eine neue Heimat zu finden, auch indem sie Litauisch lernten. Einige arbeiteten in sowjetischen Kolchosen oder bei Bauern. Diese Kinder mussten jedoch ihre deutsche Herkunft verstecken und immer mit der Furcht leben, entdeckt und in die Sowjetunion deportiert zu werden. Sie verloren neben ihren Familien und ihrer Heimat meist auch ihren deutschen Namen, ihre Sprache und kulturelle Identität. 
Erst nach der Wende, beziehungsweise dem Zusammenbruch der Sowjetunion sowie dem demokratischen Neubeginn der osteuropäischen Länder, begannen einige „Wolfskinder“ ihre Identität zu offenbaren und über ihre Geschichte zu sprechen. 
Wie viele „Wolfskinder“ es genau gegebenen hat, es bis heute schwierig bis unmöglich zu bestimmen. Vermisst gemeldete Kinder, die nicht wiedergefunden wurden, könnten zu „Wolfskinder“ geworden oder auch gestorben sein. Auch ist nicht klar, wie viele ehemalige „Wolfskinder“ sich auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nie offenbarte oder wie viele in der Zwischenzeit verstorben waren. Es wird jedoch geschätzt, dass es bis zu 25.000 „Wolfskinder“ gegeben haben könnte. 

Flucht und Vertreibung stellten für alle Betroffen ein schweres Trauma dar, oftmals physisch und psychisch, über das einige niemals sprechen konnten. Während jüngere Menschen wie Kinder und Jugendliche bei der Bewältigung dieser Traumata sowie der Anpassung an neue Lebensumstände oftmals Vorteile im Vergleich zu Erwachsenen hatten, konnten die Vorgänge der Flucht und Vertreibung auf diese jedoch auch schwerwiegende negative Auswirkungen haben. Dies zeigt das Beispiel der „Wolfskinder“, aber auch jener Jugendlichen, deren Jugendphase und Ausbildung durch die Flucht unterbrochen wurde. Gerade Kinder und Jugendliche sollten jedoch vor den Auswirkungen der Flucht geschützt werden, auch, da sie keinerlei Verantwortung für deren Ursachen tragen.

Literaturnachweise:
Engelhardt, Michael von: Lebensgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Biographieverläufe von Heimatvertriebenen des Zweiten Weltkriegs (Die Entwicklung Bayerns durch die Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge 7), München 2001.
https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Flüchtlinge_und_Vertriebene (01.03.2024).
https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-zivilisation/2023/09/die-vergessenen-wolfskinder-des-zweiten-weltkriegs-ostpreussen (01.03.2024).
https://www.politische-bildung-brandenburg.de/lexikon/wolfskinder (01.03.2024).
https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/kinder-im-krieg/545477/wolfs-und-kriegskinder-wissenschaftliches-symposium-zur-geschichte-erinnerung-und-gegenwart-im-und-nach-dem-zweiten-weltkrieg/ (01.03.2024).
https://www.dw.com/de/die-vergessenen-das-schicksal-der-wolfskinder/a-41207582 (01.03.2024). 7

Abbildunsgnachweise:
Abb. 1: Flüchtlingstreck: Bundesarchiv, Bild 146-1976-072-09 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en&gt;, via Wikimedia Common, URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_146-1976-072-09,_Ostpreu%C3%9Fen,_Fl%C3%BCchtlingtreck.jpg (01.03.2024)
Abb. 2: Kinder im Flüchtlingslager: Bundesarchiv, B 145 Bild-P048189 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en&gt;, via Wikimedia Commons, URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_B_145_Bild-P048189,_Schleswig-Holstein,_Fl%C3%BCchtlingslager,_Kinder.jpg (01.03.2024)
Abb. 3: Wolfskinder: Bundesarchiv, Bild 183-2003-0703-500 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en&gt;, via Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-2003-0703-500,_R%C3%BCckf%C3%BChrung_deutscher_Kinder_aus_Polen.jpg (01.03.2024)


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